mit dem Abitur fertig gewesen, als John den Laden an eine Eventagentur verkaufte und in die USA übersiedelte. Seine Tochter hatte keine Lust gehabt mitzugehen, was sollte sie auch in den USA. Vorzeigeschülerin, die sie war – sie hatte den scharfen Verstand ihrer Mutter Marisa, einer Neurologin an der Charité, geerbt – lebte sie die unvermeidliche pubertäre Rebellion gegen den von ihr vergötterten, aber »voll abgefahrenen« Papa mit regelmäßig und gewissenhaft erledigten Hausaufgaben, einem klassenbesten Notendurchschnitt und schließlich der Aufnahme eines Hochbegabtenstipendiums für ein Psychologiestudium an der Europäischen Privathochschule Berlin aus.
Als ihre Eltern Deutschland verließen, blieb sie die ersten Jahre in einem Zimmer über dem Miles wohnen, ging aber nicht mehr in die Kneipe, die sowohl ihren Stil als auch ihre Klientel vollkommen gewechselt hatte und nunmehr zum Schickimicki-Treff der intellektuellen Rich-Young-Urban-Elite, den legitimen Nachfolgern der Yuppies, geworden war.
»Mia, sieh’s positiv. Ich lade dich ein.«
»Können wir da auch über den Fall reden, dessentwegen wir uns eigentlich überhaupt treffen wollten?«
»Klar, außerdem gibt’s ’ne tolle Küche, super Bedienungen, und auch Di Marco lassen sie rein, wenn er so schön lächelt.«
Als sie fünf Minuten gefahren waren, meldete sich Di Marco.
»Leute, ich habe Durst«, sagte er und zeigte auf einen Kiosk.
Hensen hielt, und Di Marco sprang aus dem E-Mobil.
»Was wollt ihr?«
»Mineralwasser.«
»Ich auch.«
Di Marco ging auf einen Bettler zu, der an einer Hauswand saß, und gab ihm High-Five. Der Bettler freute sich sichtlich, ihn zu sehen, offensichtlich kannten sich die beiden. Di Marco drückte ihm einen Geldschein in die Hand und ging weiter Richtung Kiosk, vor dem sich eine längere Schlange reihte.
Hensen und Babic hatten ihn beobachtet.
»Di Marco ist ein echt netter Typ«, begann Richie den Small Talk. Sie drehte sich auf ihrem Sitz herum, um Babic anschauen zu können. »Lass dich von seinem lässigen Auftreten nicht täuschen. Er ist eigentlich ein ziemlich ernsthafter Kerl, klug und belesen. Stipendium für Bioinformatik und Philosophie in Stanford, das er kurz vor dem Masterabschluss abgebrochen hat, warum auch immer. Freiwilliges Engagement in verschiedenen sozialen Brennpunkten in den USA und in Berlin, hat Bildungsprogramme für ökonomisch Benachteiligte mit aufgebaut und war lange Zeit politisch aktiv bei Protesten gegen Maßnahmen zur Totalüberwachung von Netzbewegungen.«
Sie lachte kurz auf. »Bei ihm konnte auch keiner verstehen, dass er sich freiwillig für das Quereinsteigerprogramm der Kripo gemeldet hat, weder seine ehemaligen Mitkämpferinnen und Mitkämpfer noch die neuen Kollegen.« Sie grinste. »Und er sieht nicht schlecht aus, oder?
»Ganz nett. Willst du mich verkuppeln?«
Babic schaute zur Schlange. Di Marco, der bereits bis zur Hälfte aufgerückt war, lächelte ihr zu. Er sah wirklich gut aus.
»Wie steht’s eigentlich bei dir, Richie?«, wandte sie sich wieder an Hensen.
Sie war gespannt, ob sich beziehungstechnisch etwas bei Hensen verändert hatte. Richie Hensen bezeichnete sich selbst als »nur mittelmäßig beziehungsfähig«. Aber seit einer Weile schien sich was mit Burger, ihrem Chef, anzubahnen.
Hensen zögerte.
»Ich weiß nicht, ob ich das jetzt erzählen soll …«
Babic schwieg, das beste Mittel, um zögernde Menschen zum Weiterreden zu ermutigen.
»Wir haben uns letzte Woche mal getroffen, privat zu Hause, meine ich«, fuhr Hensen schließlich fort.
Hensen blickte zur Schlange. Di Marco stand schon ganz vorne. Wie machte der das?
Sie drehte sich wieder zurück zu Babic.
»Wir haben uns zum ersten Mal richtig ausführlich unterhalten«, sagte sie leise und schaute Babic offen ins Gesicht. »Das war echt …«
Die Fahrertür wurde aufgerissen.
»So, Mädels, euer Wasser.«
*
Auf dem Weg zum Miles passierten sie die Zentrale des militärischen Generalstabs der European Treaty Organization (EUTO), deren Fassade in diametralem Gegensatz zu einigen vom Verfall bedrohten Nachbargebäuden stand. Dann fuhren sie am neuen KaDeWe vorbei, vor dessen Eingang ein ganzes Bataillon von Security-Servanten wachte, und dessen Exklusivität bereits durch das imposante neoklassizistische Eingangsportal weithin demonstriert wurde. Schließlich kamen sie am Café Miles an, das auf den ersten Blick seinen Stil typischer Berliner Szenekneipen des ausgehenden 20. Jahrhunderts beibehalten hatte. Hensen parkte direkt vor dem Eingang auf einem VIP-Parkplatz.
»VIP?« Babic runzelte die Stirn.
»Na klar«, grinste Hensen und ignorierte das digitale Räuspern der vor dem Restaurant postierten Security-Servanten, deren Bestimmung weniger im Abweisen von Gästen lag als in der Vermittlung eines Gefühls von Sicherheit für die Kunden, die es sich leisten konnten. Die hier servierte Küche im Stil der Super-Nouvelle-Cousine war für die meisten Netzarbeiter nicht nur unbezahlbar, sondern auch wenig attraktiv.
Richie Hensen steckte ihren Bankchip in die dafür vorgesehene Öffnung eines auf der rechten Seite des Eingangsbereichs dezent verborgenen Terminals zur Überprüfung der »finanziellen Würdigkeit«, wie es die Restaurants heute nannten. Unter den strengen Blicken des Oberkellners bestand Hensens Chipkarte den Test, und sie wurden an einen Tisch direkt am Ausgang Richtung Toilette geführt.
Ungefähr ein Viertel der Gäste waren die üblichen vermögenden Privatiers, die sich bevorzugt an den teuren Plätzen der Städte aufhielten, wenn sie nicht gerade in den klassischen europäischen Touristenfallen der Reichen unterwegs waren – Sankt Moritz, Genfer See, Gardasee oder Nizza; ältere gepflegte Paare, denen man die Zugehörigkeit zur freien Klasse nicht nur an ihrem betont distinguierten Verhalten, sondern auch an der Kleidung ansah: glitzernde, weit geschnittene Anzüge in gedeckten Farben bei den Herren und enganliegende, die schmalen Hüften und üppigen Brüste betonende Schlauchkleider bei den auf späte Twens gemachten Frauen.
Das Gros der Gäste bestand jedoch aus der Out-of-Net-Worker-Elite: in teure Elite-Worker-Fashion gekleidete Frauen und Männer um die 30, alles erfolgreiche Werber, Anlageberater oder Rationalisierungsconsultants, die mindestens 70 Stunden die Woche arbeiteten und haufenweise Geld verdienten.
Hensen und Di Marco hefteten ihren Blick sofort auf die Speisekarte, die anderen Gäste, die das unpassend gekleidete Trio kritisch beäugten, bewusst ignorierend. Babic musste sich erst orientieren und schaute fast schon hektisch um sich. Draußen hatte sie noch gedacht, alles sei wie früher. Doch jetzt wurde ihr klar, dass von dem Ort, an dem sie aufgewachsen war, in dieser Glitzerwelt aus Silber, dunkelbraunem Tropenholz und blau schimmerndem Marmorboden, nichts mehr übriggeblieben war. Sie warf einer Frau am Nebentisch, die sie kritisch musterte, einen bösen Blick zu und nahm frustriert die Speisekarte in die Hand.
Di Marcos Augen weiteten sich, als Babic der etwas blasierten Kellnerin ihre Bestellung aufgab. Das Miles leistete sich – wie einige der Szenerestaurants, die vor allem von Leuten mit Privatvermögen und Out-of-Net-Workern, wie man die in Lohn und Brot stehenden Einwohner bezeichnete, besucht wurden − noch immer Kellner und Kellnerinnen, statt auf günstigere Service-Servanten umzustellen.
Babic blickte fragend zu Hensen. »Äh, ich glaube, das kostet ein Vermögen?«
Hensen nickte aufmunternd, ein glückliches Grinsen auf dem Gesicht.
Babic zuckte mit den Schultern. »Ich möchte bitte den Cocos-Avocado-Salat als Vorspeise, einmal Ingwer-Curcuma-Spaghetti, dann Esparragos à la Plancha mit Blue-Veltin-Potato-Stripes und zum Schluss noch ein Tiramisu.«
»Mia hat ihr Stipendium in einem Semester aufgegessen«, feixte Hensen, für die die Preise im Miles dank eines dicken großelterlichen Erbes sowie geschickter und glücklicher