Ansgar Thiel

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Auge sah sie Mias Vater, wie er sie fremden Gästen in seinem Restaurant als seine Tochter vorgestellt hatte.

      Total lustig. Ich glaube, das hat er manchmal wirklich geglaubt.

      Richie kam eigentlich aus einer Managerfamilie, wie sie für das 21. Jahrhundert typisch war. Ihre Mutter war permanent in der ganzen Welt unterwegs gewesen, ihr Vater hatte seinen Job aufgegeben, um sie zu begleiten, was beide als einzige Möglichkeit erachteten, ihre Beziehung zu retten. Richie, die bei der Großmutter in Berlin deponiert wurde, verbrachte die meiste Zeit nach der Schule und einen Großteil der Wochenenden bei den Babics, hatte dort sogar ein eigenes Zimmer, wenn sie übernachten musste, was nicht selten der Fall war.

      Na ja, vielleicht hat Mias Vater mich auch aus Bequemlichkeit als seine Tochter vorgestellt, weil ich da ständig rumhing. Er wollte sich vielleicht umständliche Erklärungen sparen. Geglaubt hat es sowieso bestimmt niemand. Ich meine, ich sehe weder aus wie er noch als wäre ich Mias Schwester. Größe passt nicht, Hautfarbe nicht, Haare nicht.

      Als sie an der Leihstation ankam, fiel ihr Blick auf den Fast-Buy gegenüber. Sie traute ihren Augen nicht: Durch die Fensterscheibe sah sie Di Marco, nackt bis auf die Unterhose, neben einer kleinen Menschenansammlung stehen. Er redete auf einen halb vom Kassenautomaten verdeckten Mann ein. Dieser umarmte eine junge blondgelockte Frau, die mit dem Rücken zum Fenster stand.

      Hat der jetzt völlig den Verstand verloren?

      Sie betrat den Markt und erfasste die Situation sofort.

      Mit dem Zeigefinger betätigte sie den Direktwahlknopf des in die Brusttasche ihrer Jeansjacke integrierten Telefongeräts, um einen Notruf an die Zentrale abzusetzen. Dann zückte sie ihre Walther Electronic und nahm den Geiselnehmer ins Visier.

      In knapp zehn Metern Entfernung hielt Fuller Babic so im Würgegriff, dass ihr Kinn nun leicht nach oben zeigte. Sie konnte jetzt den an der Decke des Kassenbereichs montierten alten Spiegel, der vor der Einführung der Security-Servanten wohl zur Prävention von Taschendiebstählen gedient hatte, sehen – und ihre alte Freundin Richie, wie sie den Laden betrat und die Pistole zog. Irgendwie wunderte sie sich gar nicht, dass jetzt plötzlich Richie hier auftauchte. Ihre Anwesenheit wirkte seltsam beruhigend auf sie. Auch wenn dieses Gefühl irrational war und vermutlich vom Sauerstoffmangel kam – sie fühlte sich, als könne jetzt gar nichts mehr passieren. Nur ihre Wahrnehmung war noch immer hyperreal, sie kam sich vor wie in einem dieser neo-realistischen Kim-Chin-Sui-Filme: Alles wirkte unwirklich scharf gezeichnet. Die kleine, sportliche Gestalt ihrer Freundin. Die vertraut hektischen Bewegungen. Die trendigen Klamotten, alles in Schwarz-Silber: rechteckige Sonnenbrille, Thermoboots, eine Schlaghose aus glänzendem ThermoTex, eine Jeansjacke über einem Rollkragenpullover aus Second-Skin-Faser und eine baumwollene Tokito-Wave-Mütze.

      Fuller, der sich ein wenig beruhigt hatte, hatte Hensen nicht bemerkt. Di Marco versprach dem Geiselnehmer gerade, sich für seine Sache einzusetzen. Er habe sich auch schon einmal in einer ähnlichen Situation befunden. Er kenne Leute, alles sei machbar, er werde zu seinem Recht kommen und so weiter.

      Der Geiselnehmer begann, unkontrolliert zu weinen. Ohne Babic loszulassen.

      *

      Im selben Augenblick hörten Harry Haak und Tom Strickle, Kriminalhauptmeister der Stadtpolizei, über Funk von einer Geiselnahme in einem Supermarkt. Haak wendete den Einsatzwagen, einen weißen Golf Eco S, wasserstoffbetrieben, und raste mit quietschenden Reifen auf der Notfallspur an den Computertaxis vorbei in Richtung Mehringdamm.

      »Bist du verrückt geworden?«, fragte Strickle, der sich krampfhaft am Haltegriff oberhalb der Beifahrertür festklammerte. Haak ignorierte ihn und drückte das Gaspedal voll durch. Direkt vor dem Eingang des Fast-Buy legte er eine Vollbremsung hin. »Idiot, willst du, dass die ganze Welt auf uns aufmerksam wird?«, schnauzte Strickle. Haak winkte wütend ab, drückte dann aber doch die Autotür behutsam ins Schloss. Damit der Geiselnehmer sie nicht sah, betraten sie den Supermarkt durch den Seiteneingang.

      Richie Hensen spürte Bewegung hinter ihrem Rücken. Als sie sich umdrehte, gingen die beiden Stadtpolizisten gerade hinter einer Werbetafel für koffeinfreies Kaffeepulver in Schussposition. Haak und Strickle. Normalerweise hätte der Anblick der beiden Ekelgefühle bei ihr ausgelöst. Haak sah eigentlich ganz gut aus: muskulös, wenn auch ein bisschen massig, auffallend blaue Augen. Das Schmierige fiel einem erst auf, wenn man ihn besser kannte. »Riesen-Zucchini«-Strickle, wie Hensen ihn nannte, war groß, hatte einen Erbsenkopf und die Figur eines aus dem Leim gegangenen Hochspringers. Sie schüttelte den Kopf. Heute war sie regelrecht dankbar, die beiden Widerlinge zu sehen.

      Di Marco war inzwischen fast bis auf einen Meter an den Geiselnehmer herangekommen. Er hatte am ganzen Körper Gänsehaut, kalte Schweißperlen auf der Stirn. »Sie haben nur eine Chance, wenn ich Ihnen helfe. Politiker reden mit keinem Geiselnehmer.«

      Hensen sah, dass Di Marco leicht zitterte, was seiner Stimme allerdings nicht anzuhören war.

      »Ich verspreche es Ihnen, ich setze mich für Sie ein, egal, was Ihr Problem ist.«

      Der Geiselnehmer nahm endlich den G-Booster von Babics Schläfe.

      »Kommen Sie, lassen Sie die Frau los, ich gehe mit Ihnen mit.«

      Babic spürte, wie der Mann seinen Arm von ihrer Kehle nahm. Sie wagte es noch immer nicht, sich zu bewegen.

      Di Marco stand jetzt direkt vor ihnen. »Ganz ruhig, lassen Sie sie gehen«, sagte er zu Fuller und reichte ihm die Hand. Dieser ließ Babic nun vollends los, die langsam einen Schritt zu Seite trat. Keine Reaktion. Noch ein Schritt. Der Geiselnehmer drehte sich etwas von ihr weg.

      Ein Schuss krachte. Noch Jahre später konnte Babic den entsetzten Gesichtsausdruck Di Marcos abrufen, wie er mit aufgerissenen Augen und offenem Mund auf seinen mit Blut bespritzten Körper hinunterstarrte.

      *

      Wie in Trance wischte sich Di Marco das Blut vom Gesicht. Babic wandte sich dem toten Geiselnehmer zu. Die Kugel war schräg in die Brust eingetreten, die Wucht des Schusses hatte ihn einen Meter nach hinten, über einen Stapel Long-Life-Geneto-Präparate zur oralen Einnahme, gestoßen. Wie eine achtlos weggeworfene Puppe verdreht, lag er bäuchlings in einer Blutlache am Boden. Der linke Arm fehlte, ein Loch klaffte im Rücken, umsäumt von den Resten seiner blutverschmierten Jacke.

      Di Marco tobte. »Ihr Arschlöcher«, schrie er, während er sich mehrmals im Kreis drehte, die Haare raufte und schließlich in Richtung des Stadtpolizisten, aus dessen Dienstrevolver der Schuss gefallen war, rannte. »Haak, du Schwein, ich hatte ihn, ich hatte ihn«, brüllte er. Die über den Boden verstreuten Präparate brachten ihn zum Stolpern, er rappelte sich auf, rannte weiter, direkt auf Haak zu. Hensen packte ihn an den Schultern und riss ihn, gerade, als er zum ersten Schlag ausholen wollte, zurück.

      Di Marco versuchte, sich loszureißen. »Komm, lass gut sein«, beruhigte sie ihn. Di Marco atmete tief durch und nickte dann.

      Hensen lief zu ihrer Freundin Mia. »Bist du verletzt? Lass dich anschauen. Wie geht es dir?«

      Als Mia abwinkte, nahm Hensen sie in die Arme. »Mann, Mann, ich habe mir fast in die Hose gemacht!«

      »Was sind das für Idioten? Es gab doch überhaupt keinen Grund zu schießen!«

      »Mia, die kriegen ihr Fett weg. Hauptsache, du und Di Marco seid in Ordnung.«

      Der Schwarzhaarige war also Di Marco. Das erklärte seinen abgebrühten Auftritt vorhin. Babic schaute zu ihm rüber. Er zog gerade seine Jeans wieder an.

      Di Marco war ein Capital-Cop genau wie Hensen: die inoffizielle Bezeichnung für Kriminalbeamte der SBBK. Die meisten Mitarbeiter dieser Einheit waren Quereinsteiger – wie Di Marco, von dem sie bislang eigentlich nur wusste, dass er ein fähiger Polizist und Studienabbrecher mit eigenwilliger Biografie war. So hatte es ihr Hensen erzählt. Auch Richie Hensen konnte man nicht gerade als eine typische europäische Durchschnittspolizistin bezeichnen. Sie hatte sogar eine Approbation als Ärztin, warum auch immer sie ein derart brotloses Fach studiert haben mochte, bevor sie zur Polizei wechselte. Mia Babic hätte sich einen anderen Anlass gewünscht, die Arbeitsweise ihrer neuen