Ansgar Thiel

Network


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      Gerade als er sich an die Nackenmuskulatur der Frau machen wollte, richtete diese sich auf. Ihre blauen Augen musterten ihn eindringlich. Er spürte, wie seine Schultermuskulatur verkrampfte. Es fühlte sich alles vollkommen real an, auch das Hämmern seines Herzens. Wo hatte die Frau plötzlich die Pistole her? Und warum zielte sie auf ihn? Und wie konnte es sein, dass sich die Kugel so langsam auf ihn zubewegte und er dennoch nicht in der Lage war, ihr auszuweichen?

      Für einen kurzen Moment zuckte die Erinnerung an eine CNN-Meldung über einen Serienmörder im Netz durch sein Bewusstsein, bevor es um ihn herum schlagartig dunkel wurde.

      Fast-Buy

      30.11.2046

      David Fuller konnte sich nicht daran erinnern, wie lange er bereits durch die Stadt irrte. Sein Zeitgefühl war weg, seine Bewegungen waren ziellos. Bevor er den Mehringdamm überquerte, scannte er mit gehetztem Blick seine Umgebung ab. Er war sich sicher, dass man ihn verfolgte. Er hatte keine Ahnung, wer seine Verfolger waren oder wie sie aussahen, dennoch spürte er dieses Kribbeln im Nacken, als ob ihn jemand beobachtete. Er hatte Angst. Kältewellen durchfluteten seinen Körper und ließen ihn erschauern. Die Passanten, deren Augenkontakt er suchte, schauten eilig weg, als ob er etwas Ekelerregendes an sich hätte.

      Er ging schneller. Das vertraute Logo eines Fast-Buy stach ihm ins Auge. Er hatte Hunger, seit bestimmt 20 Stunden hatte er nichts mehr gegessen. Er öffnete die Tür und ging hinein, an den Security-Servanten vorbei, möglichst unauffällig, deren prüfende Blicke ignorierend.

      Der Fast-Buy war einer dieser vollautomatischen Supermärkte, die dem Kunden minutenschnelles Einkaufen garantierten. Man musste nur am Eingang einchecken, die gewünschten Artikel an einem der zehn Terminals eingeben, die in eine hüfthohe Aluminiumkonsole integriert waren, dann zum gegenüberliegenden Fließband gehen, das direkt an eine Röhrenverbindung zur Artikellagerung angebunden war und ohne Wartezeit mit Bankchip an einer der Kassen bezahlen. Wenn alles funktionierte.

      Er begab sich zum einzigen Terminal, das in Betrieb war. Die holografischen Darstellungen der Virtual-Work-Special-Price-Menüs, wie die staatlich subventionierten Tagesgerichte für die Networker genannt wurden, ließen ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Für einen kurzen Augenblick wurde ihm schwindlig. Er hielt sich mit einer Hand an der Aluminiumkonsole fest. Im Geist summierte er die Ausgaben der letzten drei Tage und überschlug, wie viel Geld noch auf seinem Bankchip war.

      Er kam zu dem Ergebnis, dass es für ein Kartoffelmenü mit Sojageschnetzeltem und ein Joghurtkaltgetränk reichen müsste. Kurz fragte er sich, was wohl passierte, wenn er das Guthaben auf seiner Chipkarte doch ganz aufgebraucht hatte. Sein Hunger war aber so stark, dass er diesen Gedanken gleich wieder verdrängte. Er gab sein Wunschmenü ein und ging zur Zahlstation, wurde zu Kasse eins geleitet und sah, wie die von ihm bestellten Artikel auf das Fließband fielen. Er steckte seine Karte in den Pay-Schlitz und wartete.

      Ein lautes Summen ließ ihn zusammenzucken. Irritiert schaute er sich um, bis er endlich merkte, dass der Alarm an seiner Kasse losgegangen war. Sein Atem beschleunigte sich. Eine neutrale Stimme teilte ihm mit, dass seine Karte gesperrt sei. Fassungslos sank er zu Boden und stützte den Kopf auf seine Hände.

      Vor ein paar Tagen war die Welt noch in Ordnung gewesen, er hatte eine Wohnung gehabt, nichts Besonderes, aber wenigstens war sie seine, er hatte ein Hobby und er ging pflichtbewusst seinem virtuellen Job nach, er war sogar ein richtiger Könner. Und dann eine so schöne Frau als Patientin – die ein Netzmörder war, ihn einfach abknallte und jetzt …

      Leise begann er zu weinen. Wenn er wenigstens gewusst hätte, wie es weitergehen sollte.

      *

      Mia Babic war eine Stunde zu früh. Sie schlenderte den Mehringdamm entlang und versuchte, wieder ein Gefühl für Berlin zu bekommen. Drei Jahre war sie nicht mehr hier gewesen, und es hatte sich einiges verändert.

      An jeder freien Häuserwand prangten digitale Werbebilder. Die meisten kamen vom größten europäischen Konzern, der European Assurance (EA). Wenn man den Anzeigen glaubte, dann brauchte die im Netz arbeitende Bevölkerung nichts dringender als Rentenversicherungsverträge, neue VR-Elektroden mit verbesserter audiovisueller Auflösung digitaler Sinnesreizungen (»für den Networker extra special-priced«, so der Slogan) oder EA-Aktienfonds, »die Fonds mit der besten Rendite seit Menschengedenken«.

      Babic massierte ihre Nasenwurzel. Sie hatte leichte Kopfschmerzen, was nicht nur vom langen Flug, sondern bestimmt auch vom ersten Eindruck herrührte, den ihr Berlin nach der langen Abwesenheit bot.

      Sie war enttäuscht. In den USA hatte sie noch gedacht, die Berichte der New York Times über das Erscheinungsbild der europäischen Großstädte entstammten amerikanisch-ignoranten Fantasien. Doch dem war nicht so. Das Zentrum der Innenstadt, einer der lebhaftesten Touristenmagneten Europas, glitzerte und flackerte. Die Gehwege sahen aus wie geleckt, das Farbenmeer der Reklamelichter suggerierte einen Wohlstand, den es nicht gab, zumindest nicht für alle.

      Hier in Kreuzberg sah die Welt schon ganz anders aus. Die Hälfte der Läden waren Secondhandshops, von denen bestimmt drei Viertel Tauschgeschäfte erlaubten. Die restlichen Schaufenster sahen aus wie Marktstände hinter Glas, an denen es so ziemlich alles zu kaufen oder zu tauschen gab, was man für den Alltag brauchte.

      Babic blieb vor einem unbeleuchteten Schaufenster stehen und betrachtete geistesabwesend ihr Spiegelbild. Sie sah müde aus. Ihre widerspenstigen blonden Locken nervten sie auch dieses Mal ebenso wie die beiden Grübchen auf ihren Wangen. Daran änderte auch nichts, dass andere immer wieder betonten, wie hübsch sie doch sei. Oberhalb der linken Augenbraue hatte sie eine kleine Narbe, eine Erinnerung an den Faustschlag eines betrunkenen Investmentbankers, den sie davon abgehalten hatte, seine Freundin zu verprügeln.

      Gedankenverloren strich sie sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Oft schon hatte sie gehört, dass an ihr auf den ersten Blick vor allem etwas undefinierbar Exotisches auffiel, das in reizvollem Kontrast zu ihrer Haarfarbe und ihrer mitteleuropäischen Gesichtsform stand. Wahrscheinlich waren es der relativ dunkle Teint und die dunkelbraunen Augen.

      Sie ging weiter und seufzte leise.

      Jetzt war sie also wieder zu Hause. Morgen würde ein neuer Lebensabschnitt für sie beginnen. Sie atmete tief durch. Der Druck im Magen ging trotzdem nicht weg. Sie wusste nicht, ob sie den Stress schon wieder aushalten würde.

      Der Gesichtsausdruck ihres Vaters kam ihr in den Sinn, als sie ihm vor Jahren eröffnet hatte, dass sie ihren Kindheitswunsch verwirklichen und zur Polizei gehen werde. Ein Lächeln glitt über ihr Gesicht, als sie daran dachte, wie er auf sie eingeredet hatte: sie habe doch Psychologie studiert und mit Auszeichnung promoviert und sei erst 25 Jahre alt. Es war ihm nicht gelungen, sie von ihrem Plan abzubringen.

      Die Polizei hatte damals zur Anhebung des Bildungsstandards eine ganze Reihe von Fördermaßnahmen für Quereinsteiger eingeführt, die Jobs und gute Aufstiegschancen versprachen. Sie war gerade ein Jahr im Morddezernat gewesen, als ihr ein Platz in einem Eliteausbildungsprogramm in den USA angeboten wurde. Sie zögerte keine Minute, bevor sie zusagte. Das animierende Gefühl nervöser Erregung, das sie durchströmte, als sie zum ersten Mal den Seminarraum der FBI-Sondereinheit in San Francisco betrat, war Babic heute noch gegenwärtig.

      In diesem Umfeld sog sie alles, was ihr geboten wurde, begierig auf; die kriminologische Grundlagenausbildung, das Profiler-Spezialtraining, die Masterkurse in Neurophysiologie, ja, sogar die eher langweiligen IT-Programmier-Schulungen. Als sie als Mitglied der Behavioral-Analysis-Unit zum New York Police Department wechselte, hatte sie ein Zeugnis mit der zweithöchsten Abschlusstest-Punktzahl der letzten 15 Jahre in der Tasche.

      Babic setzte sich auf eine kleine Bank an einer E-Bahn-Haltestelle, ließ ihren Blick über den Mehringdamm schweifen und dachte an ihre neue Stelle. Morgen fing ihre Arbeit als Mitglied einer unlängst eingerichteten, kleinen Spezialeinheit der Bundespolizei für die Bekämpfung von staatlich relevanten Kapitalverbrechen, kurz SBBK, an. Sie war gespannt, was sie erwartete. Das Spektrum der Verbrechen reichte von Morden an öffentlichen Personen über schwerwiegende Serienstraftaten und organisierte Kriminalität bis zur Störung der virtuellen