Betriebsamkeit ihrer Freundin zu beobachten. Richie war offenbar völlig unberührt von der vorangegangenen Situation. Wie eh und je wirbelte sie umher, rief Anweisungen, stellte Fragen, dirigierte.
Babic fühlte, wie ihre angespannten Muskeln langsam lockerer wurden. Das Hyperrealitätsgefühl von vorher war immer noch da, wenn auch nicht mehr so stark. Eine typische Stressfolge, so erklärte sie es sich. Sie atmete tief durch und blickte auf die herbeigerufenen Rettungs-Servanten, die sich bemühten, die Einzelteile des Jungen zusammenzusuchen. Bei dem Geiselnehmer hatten sie auf Wiederbelebungsmaßnahmen verzichtet.
Hensen stand plötzlich wieder vor ihr und gab ihr ein frisches T-Shirt, woher auch immer sie das auf die Schnelle organisiert hatte. »Das kannst du nachher anziehen, du bist voller Blut.«
Nur wenige Meter entfernt saßen Haak und Strickle auf einer Palette Bierdosen und warteten darauf, von der Dienstaufsicht zu dem Vorfall vernommen zu werden. »Komm Haak, mach mal ’ne Dose Bier auf«, witzelte Strickle. Haak schaute mit gespielter Hab-Acht-Miene nach links und rechts und riss an der Öffnungslasche eines kleinen Bierkartons. Beide lachten und schienen von der Tatsache, dass gerade zwei Menschen gestorben waren, nur wenig erschüttert.
Als die letzten echten Cowboys der Polizei pflegte Haak sich und Strickle seinem Schützenverein gegenüber zu bezeichnen. Die anderen seien ja nichts als Psychotunten, mit ihrer Selbsterfahrung, ihrem Verständnis für die Täter und diesem ganzen Mist. Sie beide hatten da eine Theorie, weshalb es mit Europa abwärts ging: Es gab einfach zu viele Weicheier.
»Schau mal, Strickle, da kommt ein besonders weiches Ei«, grinste Haak, als Di Marco auf ihn zutrat.
»Haak, ich habe dich noch nie leiden können, aber jetzt hast du den Bogen überspannt. Ich mach dich fertig.« Di Marco war noch immer blass, und er bemühte sich sichtlich, die Beherrschung nicht zu verlieren.
»Probier’s doch, du Idiot.« Haak war aufgestanden, das Kinn vorgeschoben, den Brustkorb herausgedrückt und die Arme in Bodybuildermanier leicht abgewinkelt, bereit zuzuschlagen.
Di Marco blieb gefasst und sah Haak direkt in die Augen. »Ich würde dir liebend gerne mal mitten ins Gesicht hauen, aber dann müsste ich mir danach die Hände waschen. Ich werde den Leuten von der Dienstaufsicht mitteilen, wie unnötig dein Einsatz war«, sagte er ruhig und wandte sich ab.
Haak verlor die Beherrschung und riss Di Marco an der Schulter herum. »Du Schwein, ich werde der Dienstaufsicht was erzählen, und zwar von deiner Unprofessionalität. Mit deiner Aktion hast du sowohl dich als auch die Kleine gefährdet. Der Typ war ein gefährlicher Irrer, und da sah gar nichts nach Aufgeben aus«, geiferte Haak, sein Mund nur fünf Zentimeter von Di Marcos Gesicht entfernt. Der riss sich los, schüttelte angewidert den Kopf und wischte sich mit der Hand demonstrativ übers Gesicht.
»Haak, hast du ’ne Dusche in deinem Mund? Und putz dir mal wieder die Zähne«, sagte er verächtlich, sich abwendend.
Haak wollte sich eben auf Di Marco stürzen, als Hensen sich zwischen die beiden schob. »Di Marco, Schluss jetzt, das bringt nichts«, versuchte sie, ihren Kollegen zu beruhigen, während sie Haak mit der linken Hand am Revers festhielt. »Und du, hau ab!«, bellte sie ihn an.
»Was mischst du dich überhaupt ein?« Plötzlich stand Strickle vor Hensen. Er überragte sie um eineinhalb Köpfe.
»Strickle, Strickle, kümmere dich um deinen Kumpel und bleib locker«, zischte Hensen. Strickle trat etwas zurück und stieß unverständliche Verwünschungen aus, ließ Hensen und Di Marco aber ziehen.
Babic, die den Vorfall aus der Entfernung beobachtet hatte, konnte es kaum fassen. »Was ist los mit euch? Ihr seid doch Kollegen?«, fragte sie Hensen, als diese zur Wartebank kam, auf der sie ihre Jacken abgelegt hatten. »Alte Geschichte, erzähl ich dir ein anderes Mal ausführlich«, sagte Hensen abwesend und rieb sich die Nase. Ein dezentes Räuspern in ihrem Rücken ließ sie herumwirbeln. Die Dienstaufsicht der Inneren Sicherheit war eingetroffen. Zwei Frauen in klassischen grauen Kostümen, eine etwa 30 Jahre alte, auffallend hübsche Brünette mit vermutlich indischem Hintergrund, die andere, vielleicht 40 Jahre alt, mit kurzgeschnittenem tiefschwarzem, vermutlich gefärbtem Haar. Sie gingen direkt zu Hensen und Babic.
»Geht es Ihnen gut?«, fragte die Größere.
»Na ja …«
»Wir haben uns entschieden, Sie morgen in der SBBK-Zentrale zu vernehmen. Ich denke, es wird Ihnen guttun, sich etwas auszuruhen.«
Beide lächelten freundlich und verständnisvoll. Babic lächelte zurück, doch Hensen zog sie weg von den beiden. »Das war eine Aufforderung zu gehen«, sagte sie betont langsam und mit bissigem Unterton.
»Die sind doch nett, oder?«, entgegnete Babic erstaunt.
»Unterschätz die beiden nicht. Die haben Haare auf den Zähnen. Beides erstklassige Ermittler in einem absolut unbeliebten Geschäft und entsprechend hart drauf.«
»Jaja«, murmelte Babic skeptisch.
»Jetzt geh aber erst mal auf die Toilette, wasch dich und zieh das frische T-Shirt an.«
Babic widersprach nicht. Als sie zurückkam, gingen sie zum Ausgang des Supermarkts, wo sie auf Di Marco stießen, der schon auf sie wartete. Er hatte eine Mordswut, nicht nur auf Haak, sondern auch auf Hensen.
»Hey, warum hast du vorhin gesagt, ich soll mich beruhigen? Bin ich jetzt der Asoziale, oder was?«
Hensen ging langsam auf ihn zu, fasste ihn an der Schulter und sagte: »Ruhig, Di Marco, ich wollte dich nicht beleidigen. Aber mit Haak zu reden, das hat keinen Zweck. Sorry.«
»Warum hast du die beiden überhaupt gerufen?«, grummelte Di Marco.
»Was meinst du damit?«, erwiderte Hensen überrascht. »Ich hab die beiden nicht gerufen. Ich habe über Funk Burger informiert, sonst nichts. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er die beiden eingeschaltet hat.«
Babic schaute vom einen zum anderen. Sie fühlte sich etwas fehl am Platz, was Hensen nicht entging.
»Übrigens, Di Marco, das ist deine neue Kollegin Mia Babic.«
Di Marcos Gesicht hellte sich auf. Er reichte Babic die Hand.
»Freut mich. Darf ich Mia sagen?« Er schaute sie fragend an.
»Klar … Hey, Di Marco, danke für deinen Einsatz!« Sie lächelte verlegen. Di Marco fiel jetzt erst auf, wie hübsch sie war.
Der Fall
1.12.2046
Kriminaloberrat Detlef R. Burger machte Bürogymnastik, während er nachdachte. In Polizeikreisen galt der operative Leiter der SBBK trotz seines mit 45 Jahren noch relativ jungen Alters bereits als lebende Legende, nachdem er, noch vor seinem Wechsel zur SBBK, beim Morddezernat der Stadtpolizei die höchste Aufklärungsquote der letzten 50 Jahre erzielt hatte.
Wie Di Marco war auch er ein Studienabbrecher. Burger hatte bis zu seinem 18. Geburtstag sowohl die amerikanische als auch die deutsche Staatsbürgerschaft besessen. Er hatte in den USA studiert, wo er die ersten Initiativen für eine globalpolitische Wachstumsbeschränkung internationaler Unternehmenskonsortien mitinitiiert hatte, was natürlich einem Kampf gegen Windmühlen gleichgekommen war. Von der politischen Machtlosigkeit und dem Desinteresse der Bevölkerung ernüchtert, war er dauerhaft nach Deutschland gezogen und hatte seinen Aktionsraum verlagert. Die Polizei, die damals aufgrund diverser Menschenrechtsverstöße gegen Einwanderer für Schlagzeilen sorgte, schien ein fruchtbares Feld für seine neuen Ziele. Seine Vergangenheit als politischer Aktivist hatte ihm karrieremäßig eher Respekt eingebracht als geschadet.
Tatsächlich war es ihm gelungen, modifizierte Verhörroutinen, eine verbesserte Unterbringung nach der Verhaftung sowie die Anschaffung einer für 20 Sprachen anwendbaren Übersetzungssoftware durchzusetzen. Es hatte jedoch nicht lange gedauert, bis er auf die Position eines Hauptkommissars im Morddezernat weggelobt worden war. Die Beamten des Morddezernats waren froh über einen fähigen, liberalen Vorgesetzten, die ehemaligen Vorgesetzten der Stadtpolizei über einen lästigen