gegeben hatte. Und dass nicht nur ihr alter Chef, sondern auch ihre beste Freundin Richie Hensen dabei eine entscheidende Rolle gespielt hatte.
Sie schüttelte den Kopf. Sie würde mit Richie Hensen zusammenarbeiten, die sie schon seit ihrer Kindheit kannte. Unglaublich. Keinen Cent hätte sie früher darauf verwettet, dass Richie einmal bei der Polizei landen würde. Sie hoffte nur, dass sie nicht wieder zusammenbrach. Und dass niemand bemerkte, dass sie immer noch diese fürchterlichen Panikattacken hatte. Sie hatte nicht mal Richie davon erzählt.
Bis zu ihrem Treffen blieb ihr noch eine Dreiviertelstunde. Sie entschied sich für einen kurzen Einkauf im Supermarkt gegenüber dem vereinbarten Treffpunkt. Als sie den Fast-Buy betrat, sah sie, dass sich eine ungefähr 15 Meter lange Schlange an der einzigen funktionierenden Kasse gebildet hatte.
Ein etwa 40-jähriger, gedrungener und leicht abgegriffen gekleideter Mann mit schütterem grauem Haar und auffallenden Tränensäcken stand am Kopf der Schlange und fegte wutentbrannt Konserven vom Fließband. Die anderen Kunden standen mit ängstlich-neugierigen Gesichtern und einem gewissen Sicherheitsabstand um ihn herum. Ein ungefähr 17-jähriger, teuer gekleideter Jugendlicher sprach gerade in den an seinem Kragen befestigten Telefonbutton, holte tief Luft, streckte die Brust raus und ging ein paar Schritte auf den Mann zu.
Hoffentlich spielt der jetzt nicht den Helden, schoss es ihr durch den Kopf. Sie spannte ihre Muskeln an, hielt sich aber noch zurück. Im Grunde ging es sie ja gar nichts an, aber der Mann war verzweifelt und der Junge ein Angeber. Eine ungute Kombination, das wusste sie aus Erfahrung. Sie bewegte sich ein paar Schritte vorwärts, bis sie nur noch etwa sechs Meter von der Menschenansammlung entfernt war.
»He, Alter!«
David Fuller ließ die Cola-Dose aus recyclebarem Shuyao fallen, die er gerade gegen die Zahlstation schleudern wollte. Er blickte den Jungen, der sich direkt vor ihm aufgebaut hatte, irritiert an. Der Junge stand breitbeinig da, ein siegesgewohntes Lächeln auf dem Gesicht, im für dieses Alter typischen naiven Glauben an absolute Unverletzbarkeit.
Fuller zuckte mit den Schultern, strich eine Haarsträhne zurück und hämmerte mit der Faust gegen die Zahlstation. Das Lächeln im Gesicht des Jungen erstarb. Er schaute sich kurz um, ganz besonders schien ihn die Reaktion einer hübschen jungen Frau Anfang 20 zu interessieren, deren angstvoller Blick ihn offenbar anstachelte.
Er trat an den Mann heran, der ihm den Rücken zugewandt hatte, und gab ihm mit der flachen Hand einen Schubs. Erstaunlich schnell wirbelte dieser herum. Erschrocken trat der Junge einen Schritt zurück.
Der Mann hatte etwas Bananenförmiges in der Hand. Babics Puls beschleunigte sich. Ein G-Booster. Das Gerät, das die Security-Servanten bei gewaltsamen Konflikt-Eskalationen benutzten. Um Gottes willen! Wie war er da rangekommen? Und ganz offensichtlich kannte er sich mit dem Gerät nicht aus: Das Teil war auf volle Stärke eingestellt – damit konnte man sogar in eine Betonwand ein Loch schießen.
Fuller richtete den Booster auf den Jungen. Der wusste allem Anschein nach nichts von der Wirkung des Apparats. Er hatte sich wieder gefangen.
»Was willst du denn?«, motzte er ihn an. »Leute, die sich ihren Lebensunterhalt verdienen wollen, möchten ebenfalls einkaufen, also schwirr ab.«
Fuller zuckte zusammen.
»Was?«, fragte er mit leerem Blick.
»Du hast mich doch verstanden, oder?« Der Junge verzog verächtlich die Mundwinkel. »Leute wie du sollten froh sein, dass sie versorgt werden, und ein bisschen mehr auf ihr Geld achtgeben.« Nach Anerkennung heischend sah er sich um.
Fuller erstarrte. Sein Gesicht wurde puterrot. Er atmete zweimal tief durch, machte einen Satz nach vorne, riss den jungen Mann an den Haaren zu sich und packte ihn mit einem Doppelnelson-Griff. Der Gesichtsausdruck des Jungen war nun deutlich weniger selbstsicher. Seine Augen traten aus den Höhlen, und sein Gesicht nahm langsam eine rotbläuliche Farbe an.
Babic hatte sich den beiden langsam genähert. Sie stand Fuller nun am nächsten. Die anderen Kunden hatten sich entsetzt ein paar Schritte entfernt, keiner aber hatte den Supermarkt verlassen. Aus sicherem Abstand gafften sie, die Neugier hatte die Angst aus ihren Gesichtern verdrängt.
Babic atmete tief in den Bauch, hob ihre linke Hand, um den Mann auf sich aufmerksam zu machen, und sprach ihn mit ruhiger, fester Stimme an. »Lassen Sie den Jungen bitte gehen.«
Fuller sah auf. Sein Gesicht war voller Angst und Sorge. Den Jungen ließ er allerdings nicht los.
Babic startete einen neuen Versuch. Sie streckte beide Hände aus.
»Der Junge ist doch nicht der, den Sie wollen.«
Fuller lockerte seinen Griff, die Gesichtsfarbe des Jungen wechselte wieder von Blau in Richtung Rot.
»Bitte!«, sagte Babic sanft.
Fuller ließ den Jungen los, der nach Luft schnappend auf die Knie sank.
Babic stellte sich zwischen den Mann und den Jungen, dem sie mit einer Hand aufhalf und mit einem Nicken bedeutete, zur Seite zu gehen.
Statt sich zu entfernen, schubste dieser Babic jedoch zur Seite und stürzte sich mit einem albernen karateähnlichen Sprung auf Fuller, der reflexartig reagierte. Der Schuss riss ihn regelrecht auseinander.
Babic klatschte etwas Nasses, Schweres ins Gesicht. Mit dem Ärmel wischte sie sich die Augen frei. Dass ihr weißes Langarmshirt voller Blut war, ignorierte sie.
Die Zeit schien stillzustehen. Fuller starrte auf den verstümmelten Körper des Jungen.
Ein gequältes »Nein!« entrang sich seiner Kehle.
Babic war vor Wut über das Verhalten des Jungen noch wie paralysiert. So konnte sie auch nicht reagieren, als Fuller auf sie losging und sie in den Schwitzkasten nahm, ihr Ohr an seine Brust gequetscht. Sie konnte sein Herz rasen hören.
Etwas wurde gegen ihre Schläfe gepresst. Vermutlich der G-Booster.
Der Typ hätte ein stärkeres Deo nehmen sollen, war der erste Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss.
Verdammt, schon wieder so eine scheiß Situation, der zweite Gedanke. Na klar, als hätte sie es herbeigerufen, stieg eine Welle saurer Übelkeit von ihrem Magen auf. Ruhig rückwärts von 20 auf null zählen, vergegenwärtigte sie sich eine simple Notfalltechnik, die sie im Trainingslager in San Francisco in simulierten Extremsituationen 100e Male geübt hatten. Es funktionierte auch dieses Mal überraschend gut. In Extremsituationen war sie eigentlich immer relativ cool geblieben, sogar als es ihr sonst ziemlich schlecht ging. Na ja, als ausgebildete Psychologin wusste sie nur zu gut, dass ihre Panikattacken eine irrationale Dynamik hatten und vor allem in Situationen kamen, in denen eigentlich keine Gefahr drohte.
Sie fokussierte ihre Wahrnehmung.
Der Mann atmete schnell, vollkommen außer Fassung. Sie wollte etwas Beruhigendes sagen, doch der Würgegriff des Typs war so stark, dass sie nur ein Krächzen herausbrachte. Das Etikett am Bund seiner Trainingsjacke sprang sie an. Anti-Sweat-Faser. Ihre Wahrnehmung war hyperreal. Die unterschiedlichen Blautöne von Jacke und Hose fielen ihr auf, beide Retro-Jeans, stonewashed. Die ersten Sternchen tauchten in ihrem Sichtfeld auf. Kein so gutes Zeichen. Zu wenig Sauerstoff im Gehirn.
»Ich will meine Identität zurück!«
Die Stimme des Mannes überschlug sich.
Babic spürte ein Kribbeln in ihren Armen. Lang durfte der Würgegriff nicht mehr andauern. Sie riss sich zusammen und kalkulierte. Sie war sich sicher, dass sie ihn außer Gefecht setzen könnte, aber zu welchem Preis? Am Ende einen weiteren Toten? Außerdem kam ihr der Mann nicht wie ein Krimineller vor, eher panisch, vollkommen außer sich.
»Ich will jemanden von der EPD sprechen, oder ich bringe die Frau um!«
Babic zuckte zusammen. Das Geschrei des Mannes schmerzte in ihrem Trommelfell.
Eine ältere Frau, nur etwa eineinhalb Meter entfernt, mit einer Tüte frischer Möhren in der rechten Hand, fing an, leise zu wimmern.
Babic