Ansgar Thiel

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die Glasscherben auf.

      »Sind Sie verrückt geworden, mich so zu erschrecken?«, zeterte Mallmann. »Und wie kommen Sie überhaupt hier rein?«

      »Die Tür stand offen, ich bin einfach eingetreten.«

      Wie jedes Mal erregten die blecherne Stimme und das Leichengräbergesicht des Assistenten eine kaum zu unterdrückende Abscheu bei Mallmann, sodass er ganz vergaß, sich über die offene Tür zu wundern.

      »Was gibt’s?«

      »Herr Doktor, wir wollten die Rede durchgehen. Sie dürfen den Dank für die Unterstützung der Wirtschaft nicht vergessen.«

      Mallmann spürte, wie er innerlich verkrampfte. Sein Ärger verdrängte auch noch den letzten Rest des unheimlichen Gefühls, das ihn seit mehreren Tagen fast durchgehend begleitet hatte. Dank an die Wirtschaft! Wer hatte denn die Schriften für die Top-Managementseminare vor zehn Jahren verfasst? Er! Und von wem kamen die programmatischen Aussagen, wie »Eine unproblematische Steigerung des Wirtschaftswachstums ist nur bei gleichzeitiger finanzieller Stabilisierung der Politik möglich« und »Die Politik braucht Geld, um ihrem Auftrag der Sicherung kollektiver Güter in angemessenem Maße nachkommen zu können«? Von ihm!

      Das waren noch echte Pionierzeiten gewesen, dachte sich Mallmann. Finanzielle Stabilisierung der Politik, keine Steuern zahlen! Aktiv Geld einsetzen und mitbestimmen können, wohin es fließt, wenn schon die Politiker nichts mehr auf die Reihe bekamen, außer sich gegenseitig zu diskreditieren. Für damalige Zeiten ein ungewöhnlicher Gedanke. Aber logisch. Keine Arbeit, kein Geld – kein Geld, Unruhen, gesellschaftliche Instabilität. Was brauchte es also, wenn schon keine Arbeit da war? Nahrung und Unterhaltung, Brot und Spiele statt Hunger und Unruhe – ein voller Magen besänftigt so manchen aggressiven Gedanken.

      Er musste diesen Schnösel von Assistenten in seine Schranken weisen. »Mein Lieber, die Philosophie unserer Partei ist eine ökonomische«, dozierte er. »Die Wirtschaft kann nur wachsen, wenn es keine Störung der Ordnung gibt.«

      Er ging zum Fenster und blickte auf den Alexanderplatz. »Arbeitslose stören die Ordnung. Und davon hatten wir noch vor vier Jahren mehr als genug. Deshalb Beschäftigung, deshalb Cyber Game, deshalb Virtual Work. Wer muss hier also wem danken?«

      Mallmann streckte die Brust heraus. Er war stolz auf das Programm der EPD und vor allem auf seine eigenen Verdienste. Er ging zum Holovisionsgerät und schaltete es ein. Die vier Jahre alte Dokumentation seines heute schon legendären Interviews mit Faye Brown im Morgenmagazin auf CNN Europe erschien.

      »Meine Damen und Herren, ab heute 8 Uhr mitteleuropäischer Zeit sind in 14 Bundesstaaten Europas bis auf wenige Ausnahmen alle Arbeitslosen zur Virtual Work verpflichtet. Die restlichen Bundesstaaten werden in wenigen Wochen mit der Umsetzung des Arbeitsprogramms der Zentralregierung folgen.

      Bis gestern hatten wir in Europa noch eine Arbeitslosenquote von 45 Prozent. Ab heute ist Arbeitslosigkeit Geschichte. Europa macht etwas wahr, wovon es schon lange träumt: den sozialen Unruhen und sozialer Ungleichheit ein Ende zu setzen. Das behauptet zumindest unsere Regierung.

      Wir werden uns in der folgenden halben Stunde intensiv mit Virtual Work auseinandersetzen. Als Gast im Studio begrüßen wir Herrn Doktor Arthur Mallmann, den Arbeitsminister der europäischen Zentralregierung. Guten Morgen, Herr Doktor Mallmann, wird Virtual Work das halten, was Sie uns versprechen?«

      »Guten Morgen, Frau Brown. Eigentlich mag ich den Begriff Netzarbeit lieber als Virtual Work. Wie auch immer. Auf jeden Fall ist das keine schweißtreibende, spaßfreie und gezwungene Arbeit, wie wir sie von früher kennen. Wir bieten den Bürgerinnen und Bürgern eine Vielzahl beruflicher Wahlmöglichkeiten. Dabei soll die individuelle Neigung entscheidend für die Wahl sein. Wer Arzt werden will, kann Arzt werden, wer lieber zupacken will, kann zupacken. Sie können dort arbeiten, wo sie wollen: in Oberbayern, an einem oberitalienischen See, unter dem blauen Himmel der Sierra Nevada, in Metropolen im Stile von Paris, London und Berlin und so weiter und so weiter. Die Menschen erhalten eine zweiwöchige transkranielle neurokognitive Schnellausbildung. Jeden Tag nur sechs Stunden. Dann sind sie bereits Experten im Job ihrer Wahl. Zumindest in der virtuellen Welt.«

      »Herr Doktor Mallmann, Sie gelten als der Vater dieser ganzen Sache. Erzählen Sie unseren Zuschauerinnen und Zuschauern, wie Sie auf die Idee kamen.«

      »Das liegt doch auf der Hand. Ich nehme an, Sie sind mit den Kriminalitätsstatistiken der letzten Jahre vertraut. Ich sage nur: Menschen, die nichts zu tun haben, gründen Gangs, veranstalten Chaos und Randale und Vandalismus. Mit Bürgergeld und geregelter Netzarbeit geben wir sozusagen Brot und Spiele. Und dass das funktioniert, wissen wir seit den alten Römern.«

      »Die USA haben ja ähnliche Pläne. Aber dort gibt es große Widerstände, dass alle arbeitslosen Bürger künftig zur Netzarbeit verpflichtet werden, also arbeiten müssen.«

      »Warum reden Sie von ›müssen‹? Arbeiten ist doch jetzt kein Muss mehr im negativen Sinne. Arbeit soll Spaß machen. Und außerdem: Wollen Sie es lieber so haben wie bisher? Bettler, Straßenschlachten und Unruhen?«

      »Dennoch unterliegen die Reichen keiner Arbeitspflicht.«

      »Wir sind eine Partei für alle Bürgerinnen und Bürger. Warum erwähnen Sie nicht, dass auch Schwerkranke und Menschen mit geistiger Behinderung befreit werden?«

      »Die werden, wenn sie aus weniger betuchten Familien stammen, in den schlecht betreuten und verrotteten staatlichen Heimen ihrem Siechtum überlassen, oder?«

      »Frau Brown, jetzt kommen wir vom Thema ab.«

      »Dann lassen Sie uns über das sogenannte Säkularisierungsgesetz sprechen.«

      »Nicht schon wieder!«

      »Sie sind doch derjenige, der immer behauptet, die virtuelle Realität sei die einzige Chance, gleichzeitig den Artikel neun der Europäische Menschenrechtskonvention und die öffentliche Ordnung zu wahren.«

      »Ich kann nur ein weiteres Mal betonen, dass die Verbannung jeglicher sichtbaren religiösen Symbolik aus dem öffentlichen Raum die einzige Möglichkeit war, um zu verhindern, dass sich die Leute auf offener Straße den Schädel einschlagen.«

      »Ja, aber Artikel neun sagt auch, dass man seine Religion ungestört ausüben können und den Gesetzmäßigkeiten entsprechend zu handeln erlaubt sein muss. Und betroffen ist vor allem nur ein Teil der Bevölkerung.«

      »Ich weiß sehr gut, worauf Sie anspielen. Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Kreuze dürfen Sie auch nicht offen am Körper tragen. Außerdem haben wir nur Burka, Nikab und Hidschab verboten. In den Gotteshäusern ist nach wie vor jegliche religiöse Symbolik erlaubt. Und jetzt mal ehrlich. Keine Frau wird sanktioniert, wenn sie ein Kopftuch aufhat …«

      »Solange es schön bunt und modisch aussieht …«

      »Deshalb sage ich ja, dass unsere neue Netzwelt die Lösung für all diese Probleme ist. Zur Virtual Work, oder wo auch immer sonst, dürfen sie so verschleiert, wie sie wollen, gehen. Freie Religionsausübung ist jetzt wieder erlaubt. Halt eben im Netz und nicht außerhalb.«

      »Bislang …«

      »Frau Brown – unser System ist besser und gerechter als jedes andere, und dieses Projekt wird unsere Welt noch besser machen.«

      »Tja, wir sind alle gespannt, Herr Mallmann. Schauen wir mal, wie unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger ihren ersten Netzarbeitstag beginnen …«

      Ein schepperndes Geräusch im Eingangsbereich ließ ihn aufschrecken.

      Die Wohnungstür fiel leise ins Schloss.

      Fragend schaute Mallmann seinen Assistenten an. Der zuckte mit den Schultern, schaltete das Holovisionsgerät aus und ergriff das elektronische Paper mit dem Gesetzestext zur Regelung der Virtual Work, das auf der Küchenplatte direkt neben dem Entsafter lag.

      »Wir müssen üben«, sagte er streng und begann vorzulesen.

      § 1

      »Jede*r Bürger*in der Vereinigten Staaten von Europa (EUS) über