sie auf einen elektronischen Timer und mehrere archaisch anmutende Aktenmappen deutete, die direkt neben der Videosprechanlage auf einem kleinen Abstelltischchen lagen und von denen sie annahm, dass darin die Besprechungsinhalte festgehalten waren.
Die Wiedereinführung von Akten auf Papierbasis in allen europäischen Bundesbehörden zur Archivierung geheimer Daten war eine der umstrittensten Aktionen der EPD gewesen. Allerdings sprach viel dafür, dass Papier-Akten, die von Security-Servanten bewacht wurden, sicherer waren als die meisten elektronisch archivierten Dokumente.
»Könnten wir bitte diesen Timer und die Aktenmappe einsehen?«, fragte sie betont süßlich.
Der Assistent war sichtlich eingeschüchtert und trat einen Schritt zurück. Die gewonnene körperliche Distanz verschaffte ihm wieder etwas Mut, und er wand sich. »Das ist alles Top Secret. Ich kann Sie keine Einsicht nehmen lassen.«
»Wir sind Bundespolizisten. Solange es sich nicht um A-Class-Dokumente handelt, benötigen wir nicht einmal eine richterliche Anordnung.«
Das war schlichtweg gelogen. Hensen spekulierte darauf, dass der Assistent in Sachen Akteneinsicht nicht bewandert war und sich durch die Erwähnung von A-Class-Dokumenten, die der höchsten Geheimhaltungsstufe der Sicherheitsdienste des Europäischen Bundes unterlagen, bluffen lassen würde.
»In Ordnung, ich zeige Ihnen die Akten. Aber bitte behandeln Sie die Inhalte vertraulich.«
Pescz stelzte zu dem Tisch, hob die Akten auf und reichte sie mit gespreizten Fingern an Hensen weiter.
An einem Besprechungstisch, der im hinteren Teil des Raums platziert war, machten sich Hensen, Babic und Di Marco an die Arbeit.
*
Die Daten, die Hensen und Babic dem Timer entnehmen konnten, stimmten mit den Angaben des Assistenten überein. Der elektronische Kalender zeigte für den Tag nach dem Mord eine Fülle von Terminen an, und zwar mit der Spitzenriege: dem Europäischen Sportminister, dem Arbeitsminister der deutschen Staatsregierung, dem stellvertretenden Vorsitzenden der European Assurance Deutschland.
Dazu kamen drei private Termine: einer mit dem ältesten Sohn Mallmanns, der als Juniormanager bei der European Assurance London arbeitete, ein zweiter mit der Ex-Frau Mallmanns und ein dritter mit einer gewissen Naomi, die den Angaben zufolge bei einer Berliner Callgirl-Agentur arbeitete. Die Termine am Mordtag waren weitgehend unergiebig, da sie alle, mit Ausnahme jenes mit seinem Assistenten, mindestens eine Stunde vor dem geschätzten Todeszeitpunkt Mallmanns geendet hatten.
Als wesentlich interessanter erwies sich die Lektüre der Aktenmappen. Zunächst musste sich Di Marco allerdings durch eine ellenlange, ermüdende Beschreibung der Geschichte der Virtual Work quälen. Er fragte sich gerade, wie er in diesem Gebäude an einen Kaffee kommen könnte, als er auf die Konzeption für die Entwicklung und Umsetzung von virtuellen Ersatztätigkeiten für häufig nachgefragte Netzprofessionen stieß. Kreativ war die EPD, kein Zweifel. Was die sich für virtuelle Tätigkeiten ausdachten: Umfragen bei den Networkern durchführen, welche Farbe die Ruhebänke an den Landstraßen haben sollten, die ohnehin nie jemand benutzte, dann die Ruhebänke in diesen Farben streichen; die Alterung der Fassade von Stadthäusern mithilfe virtueller Rauchkanonen simulieren, um den Fassaden dann wieder einen neuen Anstrich zu geben und so weiter. Sinnlose Tätigkeiten, die nur dazu da waren, den Leuten etwas zu tun zu geben.
Seine Kaffee-Erwägungen verflogen vollends, als Di Marco auf den Antrag stieß, Servanten Bürgerrechte einzuräumen, um sie zu vollwertigen Konsumenten und Steuerzahlern zu machen.
»Leute, ich habe hier was Interessantes«, rief er Hensen und Babic zu sich. »Mit diesem Antrag hätte er sich mit Sicherheit Feinde gemacht, vor allem bei den Freien Einheitlichen.«
Die Frei-Einheitliche Partei, die stärkste oppositionelle Kraft im deutschen Staatsparlament, kämpfte nicht nur für eine Befreiung Deutschlands von den Ausländern, also mit denselben Plattitüden, mit denen nationalistische Bewegungen schon immer geworben hatten; ihr Kampf gegen alles Fremde richtete sich auch gegen Servanten, in denen sie ein Verbrechen an der natürlichen Einzigartigkeit des menschlichen Wesens sahen.
»Meinst du, dass die dahinterstecken könnten?«, fragte Babic.
»Wenn’s einer von denen war, wäre es zumindest nicht verwunderlich, dass er auch gleich den Servanten plattgemacht hat.«
Hensen dämpfte Di Marcos Enthusiasmus ein wenig. »Das ist eine Hypothese, mehr aber auch nicht. Hier ist jemand ganz offensichtlich, von Mallmann unbemerkt, in die Wohnung eingedrungen, um ihn zu töten. Dafür musste zunächst der Service-Servant ausgeschaltet werden. Das gilt für jeden, der Mallmann umbringen wollte. Also spricht zunächst noch gar nichts für die Einheitlichen. Aber wir behalten sie im Auge.«
»Hat sich eigentlich schon jemand beim Pförtner-Servanten erkundigt, wer heute alles zu Mallmann wollte?«
»Das ist Routine bei der Stadtpolizei, Mia. Da vorne kommt gerade einer der beiden, wahrscheinlich weiß er die Namen schon.«
»Laut Auskunft des Pförtner-Servanten hatte es außer dem Assistenten seit 19 Uhr, also eine Stunde vor Mallmanns vermutlichem Todeszeitpunkt, keine Besuche mehr gegeben«, meldete der Streifenpolizist etwas außer Atem.
Hensen bedankte sich freundlich lächelnd.
»Also müssen wir den Assistenten noch ein bisschen kitzeln«, grinste Di Marco.
»Das machen wir am besten morgen«, bremste sie ihn. »Heute sollten wir auf jeden Fall noch den Rest der Akten durchgehen, und nachher müssen wir noch in die Zentrale zu Burger.«
Di Marco machte sich wieder an die Lektüre. Das letzte Aktenbündel behandelte das Thema Netzidentitäten. Mit jeder gelesenen Seite wurde Di Marco aufgeregter.
Babic bemerkte Di Marcos wachsende Unruhe. »Hast du was Neues?«
»Kommt drauf an. Es hat zwar vermutlich nichts mit unserem Fall zu tun, aber das hat’s in sich. Mann, der will die Kontingentierung begehrter Berufe aufheben.«
Arthur Mallmann mochte zwar ein unangenehmer Zeitgenosse sein, wenn es stimmte, was das Fernsehen über sein Privatleben berichtete, aber die Ideen, mit denen er sich beschäftigte, waren für einen Politiker außerordentlich innovativ, musste Di Marco zugeben. Denn, dass es – wie die EPD behauptete – für jeden möglich sei, den Beruf auszuüben, den er wollte, war nicht die volle Wahrheit.
Auch im Netz herrschten Angebot und Nachfrage, und es war klar, dass es nicht nur beispielsweise 60 Millionen Ärzte geben konnte. Microsoft hatte daher für Europa ein komplexes System mit 40 Hauptberufen programmiert, die wiederum in Unterkategorien unterteilt waren. Für die Netzpflege und die Verteilung der Berufe auf die Networker, wie man die zum Virtual Work Verpflichteten nannte, war die Europäische Bundesnetzverwaltung zuständig.
Die Zugänge zu Berufen waren seit zweieinhalb Jahren kontingentiert. Die Anzahl der pro Berufskategorie jeweils besetzbaren Stellen sollte alle zwei Jahre neu ermittelt werden und sich am Durchschnitt der pro Stelle in Anspruch genommenen Leistungen beziehungsweise des anfallenden Arbeitsaufwandes orientieren. Wollte man einen begehrten Beruf ausüben, musste man einen vorgegebenen Test bestehen oder einen bestimmten Geldbetrag vom eigenen Vermögen an die Netzverwaltung entrichten.
Di Marco las weiter.
Mallmann wollte noch weiter gehen. Offenbar wollte er sogar die Kontingentierung von begehrten Role Models im Netz aufheben, also der Rollen, in die man als Networker schlüpfte.
Zurzeit war Elvis Presley wieder in Mode. Damit nun nicht alle im Netz als Elvis herumliefen, war die Zahl der Personen, die maximal in dieser Rolle auftreten durften, beschränkt. Dies galt für alle prominenten Rollen und wurde mithilfe einer komplexen Formel aus einem aktuellen Popularitätsindex, der jährlichen Besiedlungsdichte eines virtuellen Distrikts und der Variierbarkeit der Rolle berechnet.
Prominente Rollen waren natürlich begehrt. Di Marco wusste, dass es unterschiedliche Möglichkeiten gab, an eine solche Rolle zu kommen. Man konnte sich bei der Netzverwaltung um eine freiwerdende Rolle bewerben und diese Bewerbung durch die Zahlung eines bestimmten