Als sie die Wohnung betreten wollten, trat ein hochgewachsener Mann in einem Armani-Anzug aus dem Eingang, flankiert von zwei Bodyguards. Geschüttelt von einem heftigen Hustenanfall blieb er kurz stehen.
Als er weiterging, blickte Babic ihm hinterher.
»Mallmanns Sohn«, erklärte Hensen.
»Der sieht anders aus als auf den Fotos. Irgendwie aggressiver und älter.«
»Scheint ja auch nicht so übermäßig fit zu sein heute.«
Ein Security-Servant geleitete sie in Arthur Mallmanns Apartment. Die Wohnung passte bestens ins Gesamtkonzept des Ludwig-Erhard-Buildings. Im Wesentlichen bestand sie aus einem ungefähr 250 Quadratmeter großen, loftähnlich geschnittenen Raum, dessen Deckenhöhe in der Raummitte locker vier Meter 50 erreichte. Die Wohnung war spärlich, aber erlesen möbliert. An der etwa sechs Meter breiten Glasfront, von der aus man einen wunderbaren Blick über den Ostteil der Stadt hatte, stand ein Original-Eames-Lounge-Chair von Herman Miller.
Den hinteren Teil der Wohnung säumte eine Bibliotheksgalerie, die sich über die ganze Breite des Raums erstreckte. Hensen war beeindruckt von der schieren Menge und thematischen Vielfalt der vorhandenen Werke: soziologische, psychologische und medizinische Klassiker, wertvolle Architektur- und Kunstbände, jede Menge wirtschaftswissenschaftliche Fachliteratur und Belletristik unterschiedlichster Gattungen.
Über einer Sitzecke aus topmodernen schwarzen Ledersofas des chinesischen Design-Stars Cheng Fui hing ein gut zwei Meter hohes Gemälde von Gerhard Richter, gegenüber stand ein ultramoderner Visual-Surround-Fernseher von Sony, in einer Ecke am Ende des Raums befand sich die Installation Frozen Visions aus weißem Spritzguss von Drago Dragullo in Form einer riesigen von Spermien umgebenen Eizelle. Um den zwei Meter langen Esstisch aus Tropenholz reihten sich acht Stühle von Huko Hukormi. Rechts des Esstisches fand sich in einer Nische eine mit anthrazitfarbenem Kunststoff ausgekleidete grifflose Küche von Siemens, die mit der neuesten Technik ausgestattet war.
»Da lässt sich’s wohnen«, war das Einzige, was Di Marco, der genauso beeindruckt wie seine beiden Kolleginnen war, einfiel.
»Meinst du, die Möbel sind alles Originale?«, wandte sich Hensen an Babic, die neugierig in die Ecken linste.
»So wie’s aussieht, schon. Im wahrsten Sinne Neo-Moderne«, antwortete Babic. »Mallmann war nicht gerade arm, oder?«
»Spross einer alten Familie, der im letzten Jahrhundert eine ganze Reihe mittelständischer Industrieunternehmen gehörten.«
Hensen ging zurück in Richtung Eingang und sah, dass im begehbaren Ankleidezimmer rechts der Eingangstür, das auch als Garderobe diente, zwei Streifenpolizisten der Stadtpolizei standen.
Als die beiden Hensen sahen, kamen sie sofort auf sie zu.
»Wir sollten Sie in Empfang nehmen«, erläuterte einer der beiden nach der Begrüßung.
»Herr Pescz, der Assistent von Doktor Mallmann, war schon da, als wir kamen.« Er zeigte auf einen etwa zwei Meter großen leptosomen Mann in einem schwarzen Zweireiher, der nervös wirkte. »Er wollte wichtige Parteidokumente abholen. Wir haben vom Präsidium die Freigabe für die Dokumente, falls Sie dem zustimmen. Ich hoffe, das ist okay.«
»Wir schauen uns nachher alles mal genau an«, antwortete Hensen. »Hat er schon ausgesagt?«
»Er gibt an, einen Termin mit Doktor Mallmann gehabt zu haben, der habe ihn nach fünf Minuten aber wieder rausgeworfen.«
Hensen winkte den Assistenten zu sich.
»Hensen, SBBK. Meine Kollegen Di Marco und Babic«, stellte sich Hensen vor.
»Mein Name ist Pescz, ich bin der Assistent von Doktor Mallmann.«
Der Assistent hatte eine geradezu durchscheinend blasse Haut, eine Hakennase und basedow’sche Augen. Es fiel ihm offenkundig schwer, mit seinen Gesprächspartnern in Blickkontakt zu treten. Sein schwarzer Anzug schlotterte am dürren Körper. Hensen kam es vor als sei sie in einen Dracula-Film geraten.
»Mein Kollege sagte, Sie hatten einen Termin mit Herrn Doktor Mallmann?«, fragte sie.
»Ich kam etwas zu früh, der Pförtner-Servant ließ mich gleich durch – er kennt mich ja. Als ich oben war, stand die Tür zum Appartement offen. Ich habe mich umgeschaut, habe aber zunächst niemanden gesehen.«
Pescz räusperte sich. Die Situation war ihm sichtlich unangenehm.
»Dann habe ich mich mit Doktor Mallmann unterhalten, aber er wurde böse mit mir. Ich bin dann gegangen, zwei Stunden später jedoch wieder zurückgekommen. Die Tür stand erneut offen. Ich habe gerufen, es hat sich aber niemand gemeldet, nicht einmal der Service-Servant. Ich war natürlich irritiert. Dann habe ich mich in der Wohnung des Herrn Doktor umgeschaut. Die Tür zur Garderobe des Doktors stand offen, und da habe ich Doktor Mallmann gefunden.« Der Assistent schüttelte sich.
»Mir wird ganz schwindlig von den vielen Doktortiteln. Dürfte ich Doktor Hensens Frage ergänzen?«, schaltete sich Di Marco ein, der sich nicht verkneifen konnte, den Assistenten zu foppen.
Babic schüttelte mit einem leisen Lächeln den Kopf.
»Selbstverständlich«, antwortete der Assistent mit verwirrtem Blick auf Hensen.
»Di Marco, lass den Quatsch«, mischte sich Hensen ein.
»Okay, okay. Was wollten Sie mit Mallmann besprechen?«
»Wir hatten heute mehrere Themen zu diskutieren. Das wichtigste war die Formulierung eines Antrags für die Freistellung von virtuellen Ersatztätigkeiten, wie Straßenkehren, Einkaufstüten in den virtuellen Supermärkten bepacken und so weiter.«
»Warum Ersatztätigkeiten?«, fragte Babic dazwischen, obwohl sie keinen Schimmer hatte, ob dies relevant für den Fall war.
»Wir hatten in letzter Zeit Schwierigkeiten mit den von Microsoft programmierten Waldbränden«, stotterte der Assistent.
Um gewährleisten zu können, dass die Networker im Netz auch Arbeit hatten, war ein Teil der Arbeit bereits im Virtual-Work-Programm vorgegeben, etwa die Pflege von Gärten oder das Konstruieren, Bauen und Abreißen von Häusern. Microsoft hatte auch regelmäßig ausbrechende Feuerinfernos in leeren VR-Distrikten einprogrammiert, die zur Beschäftigung der zahlreichen Feuerwehrbrigaden dienten. Dies reichte allerdings nicht aus, alle Networker ausreichend zu beschäftigen.
Eine der letzten Verordnungen, die Arthur Mallmann als Arbeitsminister angeregt hatte, um die Beschäftigung im Netz zu erhöhen, war nach einem Jahr Probelauf der Virtual Work die Bestimmung gewesen, dass jeder Networker zumindest eine Stunde täglich die Dienste eines anderen Berufs in Anspruch nehmen musste. Diese Stunde wurde als Arbeitszeit berechnet. Selbstverständlich konnte man in seiner Freizeit auch mehr Stunden nützen, ebenso war dies den von der Netzarbeit Befreiten möglich.
»Was für Schwierigkeiten?«, hakte Babic nach.
»Es hat über einen Monat nicht mehr gebrannt, und die Feuerwehrbrigaden hatten keine Arbeit mehr. Wenn wir wirklich durch Beschäftigung Unruhen vermeiden wollen, dann müssen auch solche Eventualitäten abgesichert sein. Es darf nicht sein, dass jemand im Netz ohne Arbeit ist.«
»Was gab’s noch zu besprechen?«, übernahm Hensen wieder.
Pescz schien mit der Simultanbefragung durch die drei etwas überfordert und blickte hektisch von einem zum anderen.
»Hauptsächlich Termine für den nächsten Tag durchgehen. Doktor Mallmann ist ein gefragter Mann«, erklärte er hochnäsig.
»War«, korrigierte Di Marco. »Und weiter?«
Der Assistent zögerte, setzte zum Sprechen an, überlegte es sich aber anders und schwieg.
Hensen hatte keine Lust mehr auf Frage-Antwort-Spielchen. Sie baute sich einen halben Meter vor dem Assistenten auf, sah ihm von unten direkt in die Augen und lächelte ihn an. Sie war zwar nur ein Meter 60 groß, aber mit einer Zwei-Meter-Persönlichkeit.