was in unserer Gesellschaft eigentlich passiert, und womöglich auf dumme Gedanken kommen«, schaltete Di Marco sich ein.
»Di Marco ist zwar ein verkappter Revoluzzer, aber im Grunde stimmt das schon«, nickte Hensen.
»Warum sollt ihr dann den Fall überhaupt bearbeiten? Ich meine, ihr seid doch eine bundesstaatliche Behörde. Wenn die hohen Vertreter dieser Organisation alles unter dem Deckel halten wollen, dann könnten sie doch gleich ein paar Marionetten hinstellen.« Babic schüttelte den Kopf.
Hensen machte eine beschwichtigende Geste.
»Die SBBK ist grundsätzlich autonom. Wir leben ja nicht in einer Diktatur. Das ist das Problem für die Bosse, wenn zu einem Fall ermittelt wird, in dem eigentlich nicht ermittelt werden sollte.«
»Außerdem lassen wir uns nicht einschränken, du hast es ja gesehen und wirst es noch öfters erleben«, fügte Di Marco hinzu.
In diesem Moment kamen sie am Zentralgebäude der SBBK an, einem gegenüber des ehemaligen Tempelhofer Flughafens an der Ecke zur Paradestraße gelegenen Komplex aus vier jeweils elfstöckigen Türmen, die untereinander mit gläsernen Durchgangsbrücken verbunden waren.
Hensen öffnete mit einer Fernbedienung eine Garagentür auf der rechten Seite des vordersten Hauses. Sie fuhr den BMW direkt in einen Fahrstuhl, der sie zu einer Parkbox im obersten Stockwerk transportierte. Der Ausgang führte in den Vorraum des Bürotrakts der Polizeileitung.
Der Bereich der Polizeileitung war anders als die meisten Polizeizentralen, die Mia Babic bislang zu Gesicht bekommen hatte. Mit ihrer modernen und gepflegten Einrichtung ähnelten die hellen und weitläufigen Räume eher der Vorstandsetage eines Wirtschaftsunternehmens.
Die Büros lagen beidseitig eines langgestreckten Flurs. Um zu den Verantwortlichen zu kommen, musste man sich an der Rezeption anmelden, an der eine auffallend hübsche Servantin saß. Mit ausdruckslosen Augen begrüßte sie Hensen und Di Marco und fragte Babic nach ihrem Zugangscode. Als sie Babics Chip gescannt hatte, geleitete sie die drei zu Burgers Büro.
Burger erhob sich aus seinem Schreibtischstuhl, als sie sein Büro betraten. Babic war überrascht, wie wenig er sich verändert hatte.
Er war noch immer eine beeindruckende Erscheinung: groß, grau meliertes volles Haar, auffallende graublaue Augen und weiße ebenmäßige Zähne. Sein Gesicht wirkte verbogen, das lange Kinn leicht nach rechts verschoben. Die Nase wies nach zwei Brüchen in die entgegengesetzte Richtung und war ein wenig zu lang, was aber gut zur Kinnlänge passte. Eigentlich hässlich, dachte Babic sich auch dieses Mal. Aber auf eine Art, dass fast jede Frau sich nach ihm umdrehte. Und wenn er lächelte – ein dermaßen sympathisches Lächeln – dann … Ist schon gut, nickte sie Hensen zu, die sie beobachtet hatte.
Burger erhob sich. Er war wie immer stilvoll gekleidet, trug einen grauen Anzug, wahrscheinlich italienisch, den er sich von seinem Gehalt alleine vermutlich nicht leisten konnte.
Er ging auf Babic zu, nahm sie beiseite und sagte leise. »Du, ist mit dir alles okay? Nach gestern müsstest du normalerweise ein Beratungsgespräch mit jemandem aus dem P-Department machen. Ich kann das organisieren.«
»Nee, ist schon in Ordnung. Mir geht’s gut, ich bin voll einsatzfähig.«
»Okay, ich beobachte das mal, und du sagst mir Bescheid, wenn du Hilfe brauchst.«
Er wandte sich an die anderen und sagte feierlich: »Freut euch mit mir über unser neues Mitglied Mia. Ihr werdet sehen, sie ist eine super Ergänzung für unser Team. Herzlich willkommen!«
Er lächelte Mia an.
Babic nickte und lächelte zurück.
»Leute, ihr hattet gestern einen ganz schön harten Tag«, sagte Burger, an Hensen und Di Marco gewandt. »Bei allem Respekt, ein astreiner Einstieg«, fügte er ironisch, an Babic gewandt, hinzu. Babics Neugier hatte sie schon damals, in ihrer Zeit bei der Mordkommission, mehrmals in brenzlige Situationen gebracht. »Zum Glück ist es gut gegangen.«
»Was passiert übrigens mit Haak?«, schaltete sich Hensen ein. »Dieser Verrückte hat den Typen ohne Not einfach umgeballert.«
»Haaks Aussage bei der Dienstaufsicht lautete aber anders.« Burger hob beschwichtigend die Hände. »Er behauptet, der Typ hätte nur so getan, als ob er Di Marco den Laserstift geben wollte. Seiner Meinung nach hat er Di Marco das Leben gerettet.«
»Dieser Lügner«, ereiferte sich Di Marco, »ich hatte den G-Booster schon in der Hand, und Mia war bereits außer Reichweite.« Babic und Hensen nickten bestätigend.
»Nach Haaks Aussage konnten weder Babic noch Hensen die Aktion des Geiselnehmers präzise beurteilen. Babic nicht, weil sie zu nahe an ihm dran war, Hensen nicht, weil die Hand mit dem G-Booster aus ihrer Position gar nicht zu sehen war.«
»Da hat er recht, ich konnte die Hand wirklich nicht sehen«, gab Hensen zu, »aber seine Körpersprache zeigte ganz klar Aufgabe an.«
»Ich habe die Situation sehr wohl überblickt«, sagte Mia. »Ich stand circa einen Meter von dem Typen entfernt. Der ließ zu diesem Zeitpunkt deprimiert den Kopf hängen und reichte Di Marco den Booster, ohne aufzuschauen. Der Lauf des G-Boosters war seitwärts in Richtung Kasse zwei gerichtet. Dort stand niemand. Die nächststehende Person war eine ältere Dame, die kurz zuvor eine Tüte Möhren fallen gelassen hatte. Ich bin mir sicher, dass der Typ die Frau nicht einmal bemerkte.«
Di Marco nickte heftig mit dem Kopf.
»Bei allem Respekt, Mia, ich weiß, dass du ein extrem gutes Gedächtnis hast. Aber du warst in einer Stresssituation«, sagte Burger. »Und du hast selbst einen Artikel darüber geschrieben, wie trügerisch die subjektive Wahrnehmung in solchen Fällen sein kann. Außerdem hat die Dienstaufsicht die Positionen nachgeprüft und hält Haaks Aussage für plausibel. Und dessen Aussage wird durch Strickle gestützt, der den besten Blick auf die Szene hatte.«
»Das heißt, Haak hat keinerlei Sanktionen zu erwarten?«, regte sich Di Marco auf. Sein Hals hatte rote Flecken vor Ärger.
»So sieht’s aus, tut mir leid.«
Di Marco hämmerte mit der Faust auf Burgers Schreibtisch. »Ich bin nicht blind, ich hab seine Augen gesehen, und ich habe mittlerweile eine Menge Erfahrung.«
Hensen beobachtete ihn von der Tür aus, an der sie, als sie hereingekommen waren, stehen geblieben war. Sie wusste, dass Di Marco ein Hitzkopf war, Haak und Strickle allerdings traute sie auch nicht. Für sie sah es nach Vertuschung aus.
Auch Babic hielt es für unwahrscheinlich, dass sie die Situation falsch eingeschätzt hatte. Andererseits: Sie war gestern zum ersten Mal seit damals wieder in einer solchen Situation gewesen. Und sie war mehr als froh gewesen, von dem Typen wegzukommen.
Burger stellte sich direkt vor Di Marco.
»Tut mir leid, aber da ist noch was. Du musst morgen bei der Dienstaufsicht aussagen, weil dir Fahrlässigkeit vorgeworfen wird. Bei allem Respekt.«
Er sprach sehr leise und sah Di Marco eindringlich an.
Di Marco explodierte. »Die haben sie wohl nicht alle!«, schrie er. »Da riskiert man sein Leben, und dann kommt so ein Gestörter und labert diese Sicherheitsleute voll, und plötzlich bist du der Schuldige. Ich fasse es nicht!«
»Sorry, Di Marco. Mia muss auch mit. Aber bleib ruhig. Schlaf drüber. Ihr könnt den Vorwurf morgen ja locker entkräften.«
»Konntest du die Sache nicht abblocken?«, ärgerte sich nun Hensen, der Burgers pseudoneutraler Ton auf die Nerven ging. »Der Vorwurf ist doch totaler Schwachsinn.«
»Was hätte ich tun sollen?«, fragte Burger ruhig. »Eine solche Befragung ist eine Routineangelegenheit.« Er ließ seinen Blick durch die Runde schweifen und legte Di Marco eine Hand auf die Schulter. »Lassen wir dieses Thema. Ich sag’s euch, das erledigt sich von selbst.«
Di Marco schob die Hand weg und ließ sich in einen der Besuchersessel fallen. Er war stocksauer. »Ich denke, wir machen für heute Schluss«,