Ulrike A. Kaunzner

Die Stimme als Zeitzeugin – Werberhetorik im Hörfunk


Скачать книгу

„sachlich unterkühlte sprecherische Wiedergabe“ beschrieben wird, wenn auch Spuren des salbungsvollen SprechduktusSprechduktus noch einige Zeit nach dem Krieg zu erkennen waren. So wurde die Vortragskunst im Rahmen der Sprecherziehung neu bewertet und eine Reihe an deutschen Sprechwissenschaftlern befasste sich in den ersten Nachkriegs-Jahrzehnten des Faches mit StilgeschichteStilgeschichte und der Kunst des Sprechens bzw. Vortragens. Heute ist die SprechkunstSprechkunst, oder Ästhetische KommunikationKommunikationästhetische, Studien- und Prüfungsfach eines Studiums in Sprechwissenschaft und SprecherziehungSprecherziehung.6

      3.2 Fragen der Stimm- und Sprechästhetik

      3.2.1 Sprechprofile im Hörfunk

      Die StudiotechnikStudiotechnik gab und gibt bestimmte Bedingungen vor, so dass man sagen kann, die SprechweiseSprechweise habe sich der Technik im Laufe der Zeit angepasst bzw. anpassen müssen. Die unter 3.1 skizzierten Vortragsformate sind in den Sprechprofilen im Hörfunk wiederzuerkennen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt als Richtlinie im Aufnahmestudio, maximale DeutlichkeitDeutlichkeit bei großer ArtikulationsschärfeArtikulationsschärfe zu erzielen. Dieses damals ungeschriebene Gesetz ruft im heutigen Hörer den Eindruck von Unnatürlichkeit und gekünsteltem, alltagsfernen KommunikationsstilKommunikationsstil hervor. Trotz der schon fortschrittlichen RadiotechnikRadio-technik sah die Realität in den Studios im Nachkriegsdeutschland noch immer dürftig aus; so galt in den 1950er Jahren aufgrund der einkanaligen Aufnahmetechnik immer noch das Prinzip, bei der Aufnahme im Tonstudio sämtliche Störgeräusche abzuschotten, um die Sprecher in größtmöglicher Deutlichkeit wahrnehmen zu können. Der „hier verwendete SprechgestusSprechgestus dürfte also im Streben nach maximaler Deutlichkeit von großer artikulatorischer Präzision, relativ hoher Sprechspannung und eher geringer Geschwindigkeit geprägt gewesen sein“ (Runkehl, 2012, S. 278).

      Im Hörfunk kann man zwei grundlegend unterschiedliche Ausdrucksarten in der ersten Hälfte und noch in der Mitte des 20. Jahrhunderts unterscheiden. Die eine hat ihre Ursprünge in der politischen RedeRede, politische und PropagandaPropaganda, die andere in der Literatur und im HörspielHörspiel. Was erstere betrifft, so bezeichnet Göttert (1998, S. 448) die Rhetorik, die in der Tradition des NationalsozialismusNationalsozialismus stand, schlichtweg als „[e]xaltierte Gestik und Geschrei“; dieser Stil charakterisierte die Redetechnik trotz des Einsatzes von MikrofonMikrofon und Lautsprecher noch über Jahre hinaus und zwar nicht nur die politische Rede, sondern den Sprechstil generell, auch im Radio und in der Radiowerbung. Der Glaube, dass „das Vertreten einer Meinung an Auftreten gebunden“ sei, habe in Deutschland nicht zuletzt dazu beigetragen, dass man die Lernprozesse und Fortschritte, „die man im Ausland mit dem neuen Medium machen konnte, in Deutschland aber dank des nationalsozialistischen Mißbrauchs verpaßt hatte“ (Göttert, 1998, S. 453).

      Der in dieser Tradition stehende Sprechstil zeichnete sich folglich durch weite Melodiespektren, willkürliche Pausengestaltung und extremes Artikulieren aus. Trotz der Gegenbewegungen nach dem Krieg ist die Mode von damals noch in den 1950er und bis in die 1960er Jahre spürbar:

      Das Sprechen unter Hochdruck, das in Schreien mündet, die dynamisch gespannten SprechmelodieSprechmelodien, das mit der Zungenspitze gerollte R – dieser expressive Sprechstil klingt heute allerdings wie falsches Pathos, wie übersteigerter „Schillerton“. Vor allem wegen seines politischen Mißbrauchs durch die Nazi-Rhetorik sind wir dagegen allergisch geworden. Eine „sparsamere, verhaltenere Sprechweise“, die Züge privaten Sprechstils kultiviert, ist seit den 60er Jahren an seine Stelle getreten, im Theater wie im öffentlichen Leben. (Meyer-Kalkus, 2001, S. 261–262)

      Wie anhand der exemplarischen Untersuchungen der HF-Werbespots in Kapitel 5 zu sehen sein wird, ist die hier angesprochene pathetische Sprechweise noch in den 1950er Jahren anzutreffen,1 wenngleich wir hier von einem „Transitraum zwischen 1945 und 1952“ sprechen können, in der „die Reedukationspolitik der Westalliierten – viel mehr, als es auf den ersten Blick den Anschein haben mag, – Medienpolitik [betraf]“ (Epping-Jäger, 2015b, S. 63). So trugen die in Ost und West eingerichteten RundfunkschulenRundfunk-schulen zur Etablierung einer neuen Stimmkultur bei; sie verfolgten das Ziel, sich möglichst deutlich von den emotional-affektiven Stimmführungen der NS-Zeit abzusetzen und „Stimmgesten zu vermeiden, die für die NS-StimmkulturNS-Stimmkultur charakteristisch gewesen sind“ (Epping-Jäger, 2015a, S. 78).

      Nicht nur die Abkehr des Sprechstils der NS-Vergangenheit und folglich das „Bedürfnis nach Einfachheit, Natürlichkeit und Echtheit [und die] Reaktion auf das Hohl-Pathetische der vorangegangenen Zeit“ (Krech, 1991, S. 217–218), auch die Technik im Rundfunk und Fernsehen begünstigte dank Mikrofon und Lautsprecher eine Rückbesinnung auf stillere Töne, auf mehr Aufmerksamkeit auf die Stimme und eine Hinwendung zum literarischen Werk. Das kennzeichnet die zweite Ausdrucksart, die sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Gegenbewegung auf den pathetischen Sprechstil ausbreitete.

      So gab es auch im Rundfunk schon in den 1920er und frühen 1930er Jahren – beeinflusst durch die ReformpädagogikReformpädagogik – Gegenbewegungen, die sich von der politischen PropagandaredePropaganda-rede distanzierten und sich vielmehr mit literarischen Sendungen befassten, wie beispielsweise dem HörspielHörspiel. Damals setzten sich vor allem die Schriftsteller und Autoren selbst für einen neuen Duktus am Radio-Mikrofon ein, einer „neuen StimmästhetikStimmästhetik fürs Sprechen vor dem Mikrophon“ und forderten einen veränderten Gebrauch der Stimme.2

      Ein Verteidiger dieses „anderen“ Sprechstils sei beispielhaft hervorgehoben. Rudolf ArnheimArnheim gilt als Vertreter der GestalttheorieGestalttheorie und unterstrich in den Jahren um 1930 die Zusammengehörigkeit von Sprechkunst und Hörkunst.3 Diese Auffassung vertrat er mit absoluter Konsequenz bis zur Auffassung, Radio müsse blind gehört werden, um die „absolute“ HörkunstHörkunst zu erleben, in der die Stimmen als reine Funktionsträger fungierten. In seinen Ausführungen der 1930er Jahre gab er klare Vorschläge für das Sprechen im Hörfunk, wobei er sich der für den Gesang üblichen Bezeichnungen bediente (Bass, Bariton, Tenor, Sopran, Alt) und auf die Begrifflichkeit der Vokalcharaktere/des Vokalcharakters von Instrumenten zurückgriff. Die Wirkungen beliebter Redner und Vortragender würden „nicht so sehr durch das, was sie sagen, als durch den zu Herzen gehenden Ton, in dem sie es sagen, zünden“ (Arnheim, 1933; publiziert in 2001, S. 50).

      Seine Ausführungen fanden nach dem Krieg in der Gruppe 47 eine Fortführung und sind bis heute bedeutend, da Arnheims Gedanken für die Werbung schon damals wesentliche Grundsätze erkannte: Im Hörfunk werde der HörsinnHörsinn angesprochen, der alle anderen Sinne aktivieren könne, wenn die mit diesem Medium zur Verfügung stehenden Mittel Stimme, Musik und Geräusche richtig eingesetzt würden. So würde eine sanfte Stimme und entsprechend ruhige Musik beim Anpreisen eines Weichspülers sozusagen den Tastsinn aktivieren, sodass man den weichen Pullover förmlich fühlen könne. „Klangäußerungen unserer Welt [sind] so mannigfaltig, daß man durchaus von einem akustischen Weltbild sprechen kann“ (Arnheim, 1933; publiziert in 2001, S. 19).

      Arnheim beschrieb technische Kunstgriffe der RundfunkdramaturgieRundfunk-dramaturgie, die zwar heute durch die Stereotechnik überholt sind, die damals jedoch als fortschrittlich galten und die tonästhetischen Möglichkeiten des Radios absteckten: Effekte des Raumhalls und der Raumwirkung, des Nebeneinanders und des Nacheinanders, Richtung, Abstand, Bewegung, Raum, Klangqualität oder auch der Einsatz von Geräuschmotiven zur Kennzeichnung von Menschen.4

      Chorsprechen oder der Einsatz von Reimen, also eher konzeptionell schriftlicheSchriftlichkeit, konzeptionelle Formen von Werbetexten, waren typische „Modeerscheinungen“ der 1950er, 1960er und teilweise auch der 1970er Jahre (vgl. Kap. 5.4.2.2) und ein beliebtes Mittel, um die Aufmerksamkeit zu wecken, den Produktnamen und die Werbebotschaft im Gedächtnis zu verankern.5

      Gereimtes ist auffällig, verleiht den so ausgedrückten Inhalten Nachdruck und bleibt tendenziell lange im Gedächtnis haften. Aus diesem Grunde haben Sprichwörter, Merkverse, volkstümliche Wetterregeln und eben auch Werbesprüche oft eine gereimte Form. […] [D]ie mit einem gereimten Werbespruch oder Werbelied ausgedrückte Wertebotschaft wird dank der Reimform hervorgehoben, prägt sich leicht ein und gewinnt – vor allem bei attraktiven Werbeliedern – eher die Sympathie der Rezipienten.