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Soziale Arbeit in Palliative Care


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gegeben, dass Palliative Care mehr ist als nur die Behandlung körperlicher Beschwerden, nämlich ein umfassendes Verständnis für die existenzielle Situation und das Leiden der Betroffenen und ihrer Familien. Doch was ist Palliative Care genau? Im Folgenden werden historische Entwicklungsprozesse der ganzheitlichen Betrachtung palliativer Situationen und palliativer Einrichtungen skizziert.

      Viele Menschen können mit dem Begriff palliativ auch heute nur wenig anfangen, dieser scheint ein neuer Modebegriff zu sein, was jedoch nicht stimmt: Bereits im 17., 18. und 19. Jahrhundert lassen sich in der deutschsprachigen Literatur eine Reihe von Literaturstellen finden, in denen das Wort palliativ in unterschiedlichen Bedeutungszusammenhängen auftaucht, so z. B. bei Matthias Claudius, Friedrich Hölderlin, Friedrich Schiller, Immanuel Kant und Marie von Ebner-Eschenbach (vgl. Müller-Busch 2012). Die Verwendung des Wortes palliativ im Sinne von dämpfend, erleichternd, lindernd und täuschend war bis ins 19. Jahrhundert in gebildeten Kreisen geläufig. Sie lässt sich auch über englische und französische Literaturzitate nachweisen, so bei William Cowper, Jonathan Swift, Nicolas de Chamfort (vgl. Kraska und Müller-Busch 2017). Mit am eindrucksvollsten ist die Verwendung des Wortes palliativ im politischen Kontext. So finden wir das Wort mehrfach bei Karl Marx, später auch bei Rosa Luxemburg im Sinne von: das Übel nicht kurierend, nicht ursächlich, bei der Wurzel packend, oberflächlich bleibend (vgl. Müller-Busch 2012).

      Die älteste bisher bekannte Quelle, in der von Palliation gesprochen wird, findet sich bei dem Lehrer von Guy de Chauliac, Henri de Mondeville (ca. 1260–1320)‚ Lehrer der Anatomie und Chirurgie in Montpellier und Leibarzt Philipps des Schönen (Weiss 2003, S. 210–217).

      In der vormodernen Medizin (ca. 1500–1850) gab es eine intensive Diskussion zur Cura palliativa, die als unverzichtbare Alternative zu einer radikalen, kurativen Behandlung angesehen wurde. Cura palliativa war dabei auch ein polemischer Begriff in der damals heftig geführten Diskussion um die wahre ärztliche Kunst, die die weniger gebildete Konkurrenz für unfähig erklärte.

      Der Begriff palliativ wird in der Regel auf das lateinische Wort pallium (Mantel, Umhang) bzw. palliare (bedecken, tarnen, lindern) zurückgeführt. In althochdeutschen Wörterbüchern wird auch auf die Nähe zu pallere oder pallescere (bleichen, blass sein) hingewiesen. In der vormodernen Medizin verband man das Wort palliareallerdings nicht nur mit Vorstellungen eines bloßen Bemäntelns. Es wurde ebenso zur Bezeichnung einer Maßnahme benutzt, die auch äußere Makel oder gar die Unfähigkeit des Heilkundigen, wirksam zu behandeln, verbergen sollte (Stolberg 2007, S. 7–29). In einem einführenden Kapitel zu seiner Chirurgia (um 1363) nannte Guy de Chauliac drei Ausnahmesituationen, in denen sich der Arzt mit einer cura larga, praeservativa et palliativa begnügen dürfe: erstens bei Krankheiten wie der Lepra, die grundsätzlich unheilbar seien, zweitens wenn der Patient eine mögliche kausale, kurative Behandlung ablehne oder die ärztlichen Anweisungen nicht befolge, und drittens wenn die kurative Behandlung größeren Schaden anrichten würde als die Krankheit selbst.

      Die Wiedereinführung des Begriffs palliativ in die moderne Medizin als besondere Form der Betreuung ist auf Balfour Mount zurückzuführen. Er begründete in Montreal im Jahre 1973 die erste moderne Palliativstation, die sich speziell der Behandlung sterbender und an weit fortgeschrittenen Erkrankungen leidenden Menschen widmete. Wenige Monate zuvor hatte er das St. Christopher Hospice in London besucht und dort das empathische Wirken Cicely Saunders kennengelernt. Da im Unterschied zu dem englischen Wort hospice das gleiche Wort im Französischen für Einrichtungen zur Pflege alter und sterbender Menschen negativ besetzt war, suchte Balfour Mount nach einem anderen Begriff und entdeckte dabei das damals im Sinne von lindern in der Medizin nur selten gebrauchte und kaum bekannte Wort palliativ wieder und nutzte die positive Konnotation des Wortes, auch um damit darauf hinzuweisen, dass es in Palliative Care um ein umfassendes Betreuungskonzept für die vielen Probleme bei Sterbenden geht.

      Die Hospizidee ist ähnlich alt wie der palliative Ansatz in der Medizin. So gab es in Europa schon im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. Gasthäuser, Hospize oder sog. Xenodochions in Syrien, die sich der Betreuung Kranker und Sterbender widmeten. Im 11. Jahrhundert fanden viele Pilgerreisen ins Heilige Land statt. Im Rahmen der Kreuzzüge kam es zur Gründung verschiedener Orden: der Johanniterorden, der Malteserorden sowie der Hospitaliterorden. Auf Initiative von Angehörigen dieser Orden wurden zahlreiche Hospize und Hospitäler eingerichtet, u. a. das bis heute erhaltene Krankenhaus von Rhodos für die Pflege und Sterbebetreuung von Menschen mit unheilbaren Erkrankungen.

      Auch in anderen Kulturkreisen wurden im 1. Jahrtausend n. Chr. Hospitäler gegründet, so in China, Japan und Indien. Erst allmählich entwickelte sich der Gedanke, dass in den Gasthäusern, Hospitälern bzw. Hospizen auch Kranke und Verletzte behandelt werden sollten. So entstanden teilweise aus den Hospitälern mit einer langen Tradition der reinen Beherbergung Kranker und Sterbender nun Krankenanstalten, die mehr die Versorgung von Verletzen, Kranken und Alten übernahmen, z. B. das Hotel de Dieu in Paris. Seit der Gründung des Hospizes Calvaire durch Madame Jean Garnier im Jahr 1842 wurde der Begriff Hospiz nur noch für Einrichtungen zur Betreuung Sterbender verwendet, wobei Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts die Hospize insbesondere auch die Aufgabe übernahmen, bedürftige, alte und obdachlose Menschen aufzunehmen und im Sterben zu begleiten, wenn sie sich wegen Armut eine ärztliche oder häusliche Betreuung nicht leisten konnten, so das 1879 von Mary Aikenhead gegründete »Our Ladies Hospice« in Dublin oder das 1893 gegründete »St. Lukes Home für Dying Poor« in London. In Deutschland wurde als erstes Hospiz 1986 in Aachen das »Haus Horn« eröffnet.

      Palliative Care und Hospizbewegung sind seit dem 19. Jahrhundert wie zwei Schwestern einer Familie, die sich gut ergänzen: Während Palliative Care eher die professionellen Aufgaben umfasst, kann die Hospizbewegung mehr als Idee und Engagement verstanden werden, das Sterben wieder in das gesellschaftliche Leben und Miteinander zu integrieren. Ihre Geschichte ist eng miteinander verknüpft, wenngleich sie unterschiedliche Entwicklungen nahmen. Mit den Anfängen der modernen Medizin wurden im 18. Jahrhundert die ausschließlich pflegerischen Hospize deutlicher von den zur Behandlung von Kranken gegründeten medizinischen Krankenanstalten unterschieden.

      Cicely Saunders griff während ihrer Arbeit als Sozialarbeiterin bzw. Krankenschwester im St. Lukes den mittelalterlichen Hospizgedanken »Beistehen und Begleiten« auf, um ihn weiterzuentwickeln. Die nur wenige Wochen dauernde Beziehung zu dem 40-jährigen sterbenskranken und unter starken Schmerzen leidenden David Tasma, einem aus Polen stammenden Juden, der im Warschauer Ghetto den Holocaust überlebt hatte, aber nun einer unheimlichen und unerbittlichen Krebserkrankung ausgeliefert war, veränderte ihr Leben. Das entfremdete Sterben in einem Krankenhaus mit Schmerzen, Ängsten und Träumen erlebte sie als Herausforderung und Auftrag. David vermachte ihr sein Vermögen (500 Pfund) und verband es mit dem Wunsch, mit diesem Vermächtnis ein Sterbeheim zu gründen, das in der Zeit des Sterbens ein Zuhause sein könnte, und in dem er sich wünschte, ein Fenster der Erinnerung zu sein. Die Erfahrung der gegenseitigen, durch die endliche Situation besonderen Zuneigung in den zwei Monaten des Abschieds wurde für Cicely Saunders lebensbestimmend. Um den medizinischen Problemen sterbenskranker und sterbender Menschen fachlich besser entsprechen zu können, studierte sie Medizin und widmete sich von nun an ganz der Frage, wie eine optimale und umfassende medizinische, pflegerische, soziale und spirituelle Betreuung schwerstkranker und sterbender Menschen in der modernen Medizin ermöglicht, aber auch mit ihren Möglichkeiten verwirklicht werden könnte.

      Im Juni 1971 wurde im deutschen Fernsehen ein Dokumentarfilm über das St. Christopher Hospice gezeigt: »Noch 16 Tage … eine Sterbeklinik in London«. Besonders der Titel »Sterbeklinik« erzeugte sehr unterschiedliche Reaktionen und es entspannen sich heftige Kontroversen. Nachdem einige deutsche Ärzte das St. Christopher Hospice aufgesucht und dort das große Engagement schätzen gelernt hatten (was zunächst in der Öffentlichkeit ganz unbeachtet blieb), versuchten sie die Ideen des St. Christopher Hospice auch in Deutschland umzusetzen. Leider lehnten vor allem die Kirchen die Errichtung spezieller Sterbeeinrichtungen in Deutschland rigoros ab, weil dadurch aus ihrer Sicht das Sterben nicht menschlicher, sondern unmenschlicher gemacht werden würde. Noch 1978 hieß es von offiziell katholischer Seite auf eine Anfrage des Bundesministeriums für Jugend, Familie und Gesundheit:

      »Ein menschenwürdiges Sterben kann nicht durch die Errichtung eigener Sterbekliniken oder Sterbeheime gewährleistet