Egon Erwin Kisch

Wagnisse in aller Welt


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er sich aber auch be­eilt – die Strö­mung ist schnel­ler und un­ser Floß schon vor­bei, ehe er her­an­kommt. In der Mit­te des Stro­mes war­tet nun der Wirt, um sei­ne Bie­re der Be­man­nung der nächs­ten Flö­ße – un­se­res schwimmt als ers­tes – an­zu­bie­ten. Die Kol­le­gen hin­ter uns kön­nen nicht in je­dem Ort Bier trin­ken, und am Abend er­zäh­len sie, wie die Wir­te auf den Boo­ten ge­flucht, als ih­nen das mit so viel Ein­dring­lich­keit be­stell­te und so müh­se­lig ser­vier­te Bier am Hals blieb.

      Was aber be­deu­ten alle Flü­che al­ler Wir­te ge­gen je­den ein­zel­nen Fluch, den der durs­ti­ge Ko­lens­ký je­des Mal aus­stößt, da sein Bier den Nach­fah­rern an­ge­bo­ten wird!

      Ein An­le­gen des Flo­ßes wäh­rend der Fahrt – sei es we­gen Stur­mes, Re­gen­gus­ses oder Ha­gel­schla­ges, sei es in­fol­ge Hun­gers oder selbst Durs­tes – gibt es nicht. Nur wenn der Flö­ßer Fei­er­abend ma­chen muss, weil es ihm die Vor­schrift be­fiehlt und weil er die Ufer nicht mehr er­kennt, hält er an. Er weiß, dass ihm die Rei­se als sol­che gut be­zahlt wird (so be­kommt zum Bei­spiel der Steu­er­mann für die zwei­ein­halb Tage wäh­ren­de Fahrt nach Mit­tel­grund neun­und­fünf­zig Kro­nen), er weiß aber auch, dass er an den Ta­gen, an de­nen er sich nicht auf dem Holz­trans­port be­fin­det, dass er auch in den vier Win­ter­mo­na­ten von sei­nen Rei­se­ho­no­ra­ren zeh­ren muss, die sich nun als elend ge­nug er­wei­sen. Also trach­tet er, von sei­ner Fahrt so bald als mög­lich zu­rück zu sein – Ak­kord­ar­beit ist Mord­ar­beit –, um einen neu­en Holz­trans­port zu er­hal­ten. Trotz ver­zwei­fel­ten Durs­tes fällt es dem al­ten Ko­lens­ký nicht ein, ein An­le­gen des Flo­ßes zu ver­lan­gen.

      Erst um sie­ben Uhr abends neh­men wir, die wir um Vier­tel zwei Uhr nachts auf­ge­bro­chen wa­ren, in Bir­nai, ei­nem Dorf ober­halb Aus­sigs, un­ser Früh­stück ein, ei­ni­ge Bier­kä­se.

      Sechs Stun­den spä­ter schwim­men wir wie­der durch die Nacht. Sie ist dun­kel, die Za­cken der Ufer­ber­ge sind den­noch sicht­bar. Dro­hend und schwarz hebt sich der Wor­ko­tsch aus dem nächt­li­chen Tal, rechts schaut der Schre­cken­stein un­wil­lig über Land. Vom Ni­veau des Was­sers, im fah­len Mond oder im Däm­mer, büßt das Elb­pan­ora­ma alle Idyl­lik ein, un­heim­lich ist es, durch eine Sil­hou­et­ten­land­schaft zu glei­ten. Nach und nach tau­chen fried­li­che­re Hän­ge auf, al­ler­dings nur im bi­zar­ren Rah­men von Ne­bel­ris­sen. Da wir hin­ter Tet­schen das Elb­sand­stein­ge­bir­ge er­bli­cken, ist die Mor­gen­son­ne mit pe­ne­tran­tem Leuch­ten auf­ge­gan­gen, be­strahlt die Flu­ten der Elbe und die lot­rech­ten, zer­klüf­te­ten Fels­ge­bil­de an ih­ren Ufern.

      1 Schlepp­schiff <<<

      2 Wei­den­ru­te, Bin­de­reis aus Wei­den­zwei­gen <<<

      3 großer Last­kahn <<<

      Ge­schubst, ge­sto­ßen, ge­rem­pelt wird man zu nächt­li­cher Stun­de auf dem Schie­dam­sche dijk, so wahr mir Gott hel­fe, viel mehr als zu Ham­burg auf der Ree­per­bahn und in der zu­ge­hö­ri­gen Klei­nen Frei­heit. Das kommt zum Teil da­von, dass sich die Schrit­te der fest­landent­wöhn­ten und auch sonst ziem­lich be­feuch­te­ten Män­ner in Rot­ter­dam auf be­deu­tend schmä­le­rem Bür­ger­steig be­we­gen müs­sen.

      Je­des Haus eine Schank­stu­be, nein, je­des die­ser eng­brüs­ti­gen Hol­land­häu­ser zwei oder gar drei Schank­stu­ben und über­dies ein Gast­hof. Die Hä­fen der Ozea­ne ge­ben ihre Na­men zu Wirts­haus­schil­dern her: Co­ney Is­land-Bar, Trat­to­ria di Tries­te, Re­stau­rant de Mar­seil­le, Ta­ver­ne Le Ha­vre, Pro­e­f­lo­kal Ams­ter­dam, Lon­don Boar­ding­hou­se, Tee­haus Re­val, Café Kjö­ben­havn; »The Sta­tue of Li­ber­ty« und Kris­tall-Bar lo­cken in­ter­na­tio­nal, und die Tanz­lo­ka­le wah­ren eben­falls eine echt nie­der­län­di­sche Neu­tra­li­tät.

      In­nen die Auf­schrif­ten bloß hol­län­disch und eng­lisch: »Gent­le­men are kind­ly re­ques­ted to take off their hat whi­le dan­cing.« (»Die Her­ren wer­den freund­lich er­sucht, ih­ren Hut wäh­rend des Tan­zes ab­zu­neh­men.«) Aber kei­ner der so kind­ly an­ge­spro­che­nen Gent­le­men ist so kind­ly, Fol­ge zu leis­ten, und Tanz­meis­ter, Wirt, Kell­ner wa­gen es nicht, auf die­sen Toi­let­te­feh­ler auf­merk­sam zu ma­chen, die Gäs­te tan­zen mit dem Hut, der Ma­tro­sen­kap­pe, in der Uni­form­müt­ze auf dem Kopf, ob­schon kei­ne Bri­se weht von der Maas oder we­nigs­tens vom Salm­ha­fen in die von Kau- und Rauch­ta­bak ge­sät­tig­te Luft des Dan­spa­leis El­do­ra­do. Den Charle­ston kann der See­fah­rer nicht mit­ma­chen: Mit hoch­ge­schraub­ten Au­gen, vor­ge­beugt, als stün­de er an der Re­ling, sieht er dem Wun­der zu, das ihm ei­nes ist, wäh­rend ihm die Tro­pen­bäu­me auf dem Pik von Te­ne­rif­fa oder die blau­en Af­fen von Gua­te­ma­la nichts Wun­der­ba­res sind.

      Ge­schäf­te, ihr Da­sein zwi­schen den Gast­lo­ka­len ist ein ziem­lich ge­drück­tes, sind nachts­über ge­öff­net, was bei Fischlä­den und Ta­bak­tra­fi­ken ver­ständ­lich er­scheint, aber un­er­find­lich bei ei­nem Pa­pier­ge­schäft: Rech­net der Ver­käu­fer auf Men­schen, die zu nacht­schla­fen­der Zeit das Be­dürf­nis ver­spü­ren, sich so­fort Zau­ber­spiel­kar­ten, einen Lie­bes­brief­stel­ler oder die letz­ten Num­mern der por­no­gra­fi­schen Witz­blät­ter »Pan« und »Die zwar­te Kat« an­zu­schaf­fen?

      Apro­pos: Wei­ber ma­chen das Trot­toir. Sie spre­chen alle Spra­chen oder spre­chen we­nigs­tens in al­len Spra­chen an, sie ha­ben eine lan­ge Ver­gan­gen­heit, und so schwer vor­stell­bar es ist, sie müs­sen ein­mal jung ge­we­sen sein und vie­le Stre­cken zu­rück­ge­legt ha­ben, sol­che des Auf­stiegs und sol­che des Ab­stiegs. Vor­letz­te Sta­ti­on: auf dem Schie­dam­schen dijk zu Rot­ter­dam zu lun­gern. Sie könn­ten er­zäh­len, wenn sie zu er­zäh­len ver­stün­den, sie könn­ten Na­men ih­rer Lieb­ha­ber nen­nen, wenn sie de­ren Na­men je ge­kannt hät­ten, sie könn­ten sich an schö­ne Er­leb­nis­se er­in­nern, wenn sie Erin­ne­rungs­fä­hig­keit und Er­leb­nis­fä­hig­keit be­sä­ßen.

      Das war die hol­län­di­sche Land­schaft, die dem jun­gen Fran­zo­sen Ar­thur Rim­baud bes­ser zu­sag­te als Him­mel, Him­mel,