ankam. Aus den Baracken von Salatiga, sechshundert Meter hoch, auf dem Hang des Merbaboc, weit im Innern von Java, desertierte ein Mantje namens Arthur Rimbaud; man fahndete nach ihm, um ihm kurzen Prozess zu machen, er irrte umher, und als der englische Kargodampfer ihn aufnahm und Anker lichtete, mag er glückselig diesen Kohlenkahn als trunkenes Schiff empfunden haben.
Kolonialsoldaten, denen die Flucht nicht glückte, schlendern durch den Nachtbetrieb und beabsichtigen, sich schadlos zu halten für Exerzierübungen auf dem Paketboot »Prins van Oranje« und den Bereitschaftsdienst in den Baracken von Salatiga, sechshundert Meter hoch auf dem Hang des Merbaboc weit im Innern von Java … Sie sind mager und geil, und auf den Ärmeln der Uniform tragen sie einen gelben Streifen.
Und uniform, trotz ihrer so verschiedenfachen Nomenklatur, sind die Wirtschaften. Bar auf Bar, Proeflokal auf Proeflokal, Tapperij auf Tapperij, Slijterij auf Slijterij, auch der Grossist verkauft »per maat en per glas«, und auf jedem Fenster ist angeschrieben, dass der Ausschank von Alkohol behördlicherseits »vergoennt« und »starke dranken« zu kaufen sind. Amstel Bieren, Heinekens Bieren und Pilsner Urquell werden angepriesen, die guten holländischen Schnäpse verstehen sich von selbst.
Die Buntheit von Sankt Pauli fehlt, das rhythmische Gerassel der Orchestrions,3 die grelle Stukkatur der Schaubuden, die Hippodrome, das Herrmannsche Panoptikum, die Tingeltangel. Noch etwas vermisst man: die gelbe Rasse. Es gibt freilich Mongolen genug in der Hafenstadt des Landes, von dessen sechsundvierzig Millionen Menschen reichlich vierzig Millionen in Sumatra, Borneo und Celebes, in den Molukken und in Westindien eingeboren sind. Indes, diese rechtlosen und ausgepressten Untertanen, die als Heizer und Schauermänner rechtlos und ausgepresst ins Mutterland kommen, dürfen unter den Weißen nicht wohnen; sie hausen in einem anderen Stadtteil Rotterdams auf dem anderen Ufer der Maas, in Katendrecht.
Dort schwärmen Chinesen, Neger, Inder und Malaien aus, dort ist kein »Vergunning« auf das Fenster der Kaschemmen gemalt, und hinter jedem Eintretenden schließt sich die Matte, auf dass der europäische Passant nicht sehe, was sich im Innern vollzieht, ob Kokain geschnupft wird, Opium gegessen, Haschisch geraucht, Lotterie gespielt oder hasardiert mit Dominosteinen und Würfeln und schmalen Spielkartenstreifen.
An den Speichern der Niederländisch-Amerikanischen Dampfschifffahrtsgesellschaft haben Asiens Völker ihr Karree: Atjehstraat, Lombokstraat, Sumatraweg und Veerlen, und dieses Getto der Asiaten ist ein unheimlicher Fleck, besonders in den ersten Stunden des Abends, da aus Zwielicht, Dämmerung und Nebel jenseitige Gesichter emporschaukeln wie Materialisationsphänomene.
Niemals kommen sie aus den Kolonien herüber auf den Schiedamschen dijk. Was aber hat diese Radaustraße an der Mündung der Maas und des Rheins vor ihrer Kollegin an der Elbemündung voraus? Sie hat vor ihr voraus, dass das deutsche Element überwiegt. Auf der Reeperbahn zu Hamburg wird nicht so viel Deutsch gesprochen wie auf dem Schiedamschen dijk zu Rotterdam; Reparationskohle und Streikbrecherkohle schwimmt rheinabwärts bis Rotterdam, im Waalhafen ankert täglich eine Flotte von Rheinkähnen, gigantische Brückenkrane der DEMAG (ihre Ausleger reichen fünfzig Meter über Kaikante hinaus) löschen sie, schwimmende Elevator-Transporteure bunkern die Steinkohle in die Seeschiffe.
Verstummt am Abend das Klirren der Kranketten, das Stürzen der schwarzen Steine, das Surren der Antriebsmotoren, hört man in den Hafenstraßen deutsches Schifferplatt, und hundert Wirtshäuser locken mit heimischen Namen: »Düsseldorf«, »Köln«, »Mainz«, »Duisburg«, »Wesel« oder wenigstens mit der Versicherung: »Man sprigt Deutsch« – denn man sprigt Deutsch, wenn man’s auch nicht schreiben kann, »g« wird wie »ch« ausgesprochen –; der Krieg endete, deutsche Kohle geht über Rotterdam nach England, wo die Bergarbeiter hungernd streiken, und der deutsche Schiffer trinkt dafür auf dem Schiedamschen dijk steifen holländischen Grog.
1 Heilsarmee <<<
2 Lohn eines Seemannes <<<
3 Ein mechanisches Musikinstrument mit dem Zweck, möglichst ein ganzes Orchester zu imitieren. <<<
Justiz gegen Eingeborene
Den Kadi, mit dessen weisem Spruch die Märchen aus Tausendundeiner Nacht enden, den gibt’s im Orient immer noch.
Viele Stufen muss man vom Gouvernementsplatz hinabsteigen, um zum Eingang der Djama-Djedid, der größten Moschee Algeriens, zu kommen. Aber der Bau ist so hoch, dass die weiße Wölbung mit dem goldenen Halbmond wieder hinaufragt in das europäische Häuserkarree und, eine zinnenumrahmte Halbkugel, mitten darin liegt zwischen Handelskammer, Rathaus, Börse und Bronzemonument, fremd, alt, groß und geheimnisvoll.
Vom Platz aus führt ein schmaler Seiteneingang direkt in die Höhe der Kuppel, man tritt in einen kahlen Vorraum, gegenüber der Türe ist ein ebenso kahles Kämmerlein, links geht’s zur Mahakma, der Gerichtsstube, wo der Kadi amtiert, seit dreihundert Jahren in demselben Raum, seit tausend Jahren auf dieselbe Art.
Ließe sich denken, ein Kadi sei jung? Nun, unserer ist alt, unter seinem weißen Bart schlingt sich der weiße Licham um den Hals, als gälte es jeden Augenblick, ihn vor den Mund zu legen, um sich vor dem Samum zu schützen. Des Kadis Stirn verschnürt ein golddurchwirktes Turbantuch, und die goldene Brille gibt ihm, der Achtung von Amts wegen genießt, überdies das Ansehen tiefer Buchgelahrtheit.
Er sitzt in breitem Stuhl auf einem Podium, die braune Täfelung der Wand liefert ihm den Hintergrund – zu der Kalifen Zeiten mag der Richterstuhl ein Thron gewesen und die Drapierung der Wand von einem Teppich gebildet worden sein, damals fehlte wohl die Barriere, die den Gerichtshof vom Volk der männlichen Kläger, männlichen Beklagten und männlichen Zeugen trennt; die weiblichen sind dahinter in den kahlen Raum gepfercht, und nur durch Gitterfenster dürfen sie, die tief Verschleierten, den Gang der Verhandlungen verfolgen, und nur durch die Gitterstäbe erheben sie Klage, sprechen sie Worte der Verteidigung oder erstatten sie Zeugenaussage.
Nicht minder ehrwürdig als der Kadi: die beiden beturbanten Hilfsrichter zu seinen Füßen. In beinahe demutsvollem Tone bringen sie ihre Einwände vor, der Mufti rechts die belastenden,