aber auch für die Schauspielerinnen sehr umständlich und gefährlich. Umso mehr sollte in der Presse positive Stimmung zu diesem einjährigen Provisorium verbreitet werden. Deshalb produzierten die Kammerspiele eine Spezialausgabe ihres Werbehefts, das das Publikum auf möglichst humorvolle Weise auf die räumliche Veränderung vorbereiten sollte. «Lieber Herr Schnyder! Wir haben zwar für unser Propagandaheft schon ein Bild von Ihnen, das ich seinerzeit vorsorglich zurückbehalten habe. Aber es ist uns zu ernst. Wir machen nämlich ein komisches Propagandaheft – seit ‹Im 6. Stock› werden bei uns nur noch komische Dinge gemacht. […] Alle Schauspieler erscheinen nur in Liebhaberfotos irgendwelche für sie symbolische Gegenstände mit sich schleppend. Bitte senden Sie mir sofort auch ein derartiges Bild von sich, das ganz irr sein darf – wenn auch in Grenzen!», wurde er von der Theaterleitung aufgefordert.
Bereits im Sommer 1939, den er wie gewohnt in Burgdorf verbrachte und von wo aus er gelegentlich Bergtouren unternahm,73 besprach er sich schriftlich mit Falckenberg über die zu inszenierenden Stücke. Im Juli erhielt er «Die gefesselte Phantasie» zur Lektüre, ein Zauberspiel in zwei Aufzügen von Ferdinand Raimund. Gegenüber Falckenberg gab er zu bedenken, ob dieses Stück nicht doch zu harmlos und «kindlich-verspielt» sei, um dem heutigen Publikum zu gefallen. Falckenberg wies darauf hin, dass es Aufgabe der Regie sei, das Werk entsprechend zu inszenieren, und überliess deshalb ihm die Entscheidung, ob er nicht lieber «Der Arzt am Scheideweg» übernehmen wolle. Jedoch würde Friedrich Domin, der darin die Hauptrolle spielte, gerne selbst Regie führen. Schnyder präferierte «Die gefesselte Phantasie», da er Domin nicht kränken wollte. Daraus wurde jedoch nichts. Am 9. August bat ihn Direktor Waldeck, die Regie von «Mensch und Übermensch» zu übernehmen. «Seien Sie uns nicht böse, dass es nun mit der Regie von ‹Die gefesselte Phantasie› nichts geworden ist. Intendant Falckenberg möchte sie selbst gerne gemeinsam mit Herrn Wery, der sich als Bayer ungemein gerade für dieses Stück interessiert, machen.» Doch auch «Mensch und Übermensch» wurde aus verschiedenen Gründen fallen gelassen. «Über unsere weiteren Pläne, insbesondere auch mit Ihnen, erhalten Sie Nachricht sobald Herr Intendant Falckenberg und Herr Direktor Waldeck wieder aus ihrem Urlaub zurück sein werden», liess ihn Chefdramaturg Wolfgang Petzet wissen.
Auch nach den Ferien Waldecks und Falckenbergs herrschte Funkstille. Obwohl Schnyders Vertrag am 1. September 1939 in München begonnen hätte, reiste er wieder zurück in die Schweiz, da er von München noch nichts vernommen und auch in Berlin nichts mehr zu tun hatte. Erst am 19. Oktober erhielt er die Aufforderung, nach München zu kommen, da die Stellprobe für «Schuss im Rampenlicht» auf Ende Monat festgelegt worden war und Falckenberg ihn als Regisseur bestimmt hatte.
Es sollte für Schnyder in München zu keinem Auftrag mehr kommen. Später sagte er oft, dass der Krieg seine Karriere in München beendet habe. Doch waren es vielmehr sein Stolz und die Differenzen mit Falckenberg. Zwar erhielt er regelmässig seinen Lohn; kreativ tätig sein konnte er jedoch nicht. Das Hin und Her der Kammerspiele bewog ihn wohl dazu, sich nach weiteren Möglichkeiten umzusehen und Regieaufträge in Zürich anzunehmen. Am 26. Oktober 1939 war ein Telegramm aus München in die Schweiz unterwegs, adressiert an «Franz Schnyder, Schauspiel, Zürich: Bestätigen telefonische Vereinbarung, wonach Ihr Vertrag ab 1. November gelöst ist. September und Oktober-Gage wird von uns bezahlt.» Das Telegramm konnte aber nicht übermittelt werden, da die Telegrafenverbindung unterbrochen war. Was auch immer genau geschehen war – Schnyder kam dann später doch noch zur Besinnung und schrieb am 19. November 1940 von Zürich aus an Falckenberg: «Sie haben mir einmal prophezeit, ich würde beim Film landen. Diese Prophezeiung ist in Erfüllung gegangen; ich mache gegenwärtig meinen ersten Film. Aus diesem Anlass heraus fühle ich mich gezwungen, Ihnen zu schreiben. Und zwar einzig und allein aus dem Grunde, weil ich Ihnen gegenüber ein sehr schlechtes Gewissen habe. Was mich bei der ganzen Geschichte beruhigt, ist nur, dass ich allein der Leidtragende bin. Ich denke sehr ungern an meine Münchner Zeit zurück, weil sie eng verbunden ist mit meiner Riesen-Dummheit. Ich hätte an Ihrem Theater die Möglichkeit gehabt, in jeder Beziehung künstlerisch und menschlich zu reifen: diese Möglichkeit habe ich mir selbst genommen und das werde ich mir nie verzeihn. Nicht dass ich mich in einer Notlage befinde; im Gegenteil: financiell ist es mir noch nie so gut gegangen wie jetzt. Aber umso mehr bin und kann ich objektiv sein und Fehler erkennen, aus denen ich zwar viel gelernt habe, die ich aber leider leider nicht gut machen kann. Sehr verehrter Herr Intendant! Ich kann Sie zwar nicht bitten, mein damaliges Gebaren zu verstehn – ich kann es heute selbst nicht mehr verstehn –, aber eines muss ich Sie bitten, mir, so weit es Ihnen möglich ist, meine Fehler nicht mehr nachzutragen.»74 Vielleicht war es die Reue über die verpatzte Chance und die Bosheit gegenüber sich selbst, weshalb er sich später einredete, die politische Situation sei Grund für seine Heimkehr gewesen.75
Vielleicht hatte Schnyder aber auch gerade Glück, wieder in die Schweiz gekommen zu sein, denn die Lage an den Kammerspielen verschlechterte sich. «Der Krieg […] bestimmte mehr noch als die Erfahrungen mit der behelfsmässigen Wirkungsstätte des Kolosseums manche wesentliche Umstellung und Änderung des angekündigten Spielplans», war im Völkischen Beobachter im Juli 1940 zu lesen. Immerhin konnte man am 12. Februar 1940 wieder in das modernisierte Schauspielhaus zurückkehren. Doch der Krieg verschlimmerte die Arbeitsbedingungen, und der grosse Kleider- und Kostümmangel war nur eine der vielen Sorgen der Schauspielerinnen und Schauspieler. Die Situation am Schauspielhaus Zürich war gewiss besser.
Rückblickend sagte Schnyder in den 1970er-Jahren,76 dass die Nazis ihn in künstlerischer Hinsicht nicht eingeschränkt hätten. «Das Deutsche Theater und die Münchner Kammerspiele waren ‹Inseln im Sturm.›» Diese Aussage mochte für ihn persönlich vielleicht stimmen, weil er nicht direkt miterlebt hatte, was in den Büros der Direktion geschah oder es ihn schlicht nicht interessierte. Der Einfluss der Nazis auf die Spielplangestaltung – in München ja gar in die baulichen Massnahmen – war offensichtlich, aber solange er die vorgegebenen Stücke frei inszenieren konnte, schien ihn das Geschehen nicht sonderlich beunruhigt zu haben – oder er ignorierte es einfach. 1991 schrieb er: «Die Theaterleute waren ja alle keine Nazis. Doch Op[p]ortunisten – dazu feige. Sie wollten doch gefeierte Stars sein – und da lässt man Gewissen Gewissen sein.»
Rückkehr in die Schweiz
In diversen Texten liest man, und Schnyder sagte es öfters auch selbst, dass der Ausbruch des Zweiten Weltkriegs sein Engagement an den Münchner Kammerspielen vereitelt habe und er zurück in die Schweiz gekommen sei, um in den Militärdienst einzurücken. Probenzettel und Aufführungsanzeigen widerlegen diese Begründung jedoch. Denn zum einen ging er in der zweiten Hälfte des Jahres 1939 direkt ans Schauspielhaus Zürich, wo er regelmässig inszenierte. Auch wenn er bei den Aufführungen, in denen er nicht Teil des Schauspielensembles war, nicht jedes Mal anwesend sein musste, brachten die Inszenierungen doch viele Probentermine mit sich. Zum anderen fanden die Dreharbeiten zu «Gilberte de Courgenay» im Februar und März 1941 statt, also musste er sich spätestens ab Herbst 1940 mit den Vorbereitungen beschäftigen. Somit blieb nicht viel Zeit für Militärdienst. Es könnte höchstens sein, dass er während der Sommerpausen seiner Militärpflicht im Rahmen der obligatorischen Wiederholungskurse nachkam, doch diese hätten ein Engagement in Deutschland nicht verhindert. Wegen des Kriegs zurückzukehren, um seinem Vaterland zu dienen, hört sich natürlich im Nachhinein besser und heroischer an und ist auch nicht grundsätzlich falsch. «Ich musste einrücken. Und ich bin gerne eingerückt. Die Schweiz schien mir ein Paradies. Keine Nazis, jeder konnte seine Meinung sagen und frei leben. Und jeder musste natürlich auch seine Pflichten gegenüber dem Staat erfüllen.»77
Franz Schnyder liess sich in Zürich an der Hottingerstrasse 30 nieder, wo er die kommenden acht Jahre gewohnt hat.78 Die Zeit am «Pfauentheater», dem Aufführungsort des Zürcher Schauspielhauses, war von entscheidender Bedeutung. Hier traf er viele berühmte jüdische und systemkritische Bühnenkünstler, die seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten aus dem Deutschen Reich geflohen waren und mit denen er später noch oft zusammenarbeiten sollte. Schauspieler wie Heinrich Gretler, Therese Giese, Anne-Marie Blanc, Erwin Kohlund, Leopold Biberti – aber auch Regiegrössen wie Leonard Steckel oder Leopold Lindtberg, den Musiker Paul Burkhard, den Bühnenbildner Teo Otto und den Dramaturgen Kurt Hirschfeld. Mit der Annexion Österreichs 1938 hatte eine zweite grosse Emigrationswelle