zu ziehen und dort zu arbeiten. Kaum war sie angekommen, starb ihr neuer «Ehemann». Auf der Suche nach einer Anstellung stellte Franz sie seinem Bruder Conrad vor, der sie als seine Sekretärin engagierte. Conrad verliebte sich aber Hals über Kopf in Erika und liess sich für sie scheiden – eine Tat, die Franz seinem Bruder nie verzeihen würde «Du heiratest eine Hure», soll Franz Conrad vorgeworfen haben. «Wie sprichst du von meiner Frau!», habe dieser erwidert.67 Mutter Louise, die Conrads erste Frau sehr mochte, war gegen diese Verbindung, welche die Familie Schnyder schliesslich entzweite. Wann dies genau geschah, ist unklar. Da Erika Seibert 1935 in einem deutschen Film namens «Mazurka»68 spielte und auch Franz bis ins Jahr 1939 noch regen Kontakt zu Conrad pflegte, wäre ein Zeitpunkt zu Kriegsbeginn wahrscheinlich. Erst viele Jahre später nahm Felix Schnyders Ehefrau, Sigrid Bucher, den Kontakt mit Conrad und Erika wieder auf. 1975 nahm sich Conrad Schnyder das Leben;69 anschliessend führte Erika die Geschäfte der expandierenden CWS weiter.
Erika Schnyder Seibert, die Freundin von Franz Schnyder und spätere Ehefrau seines Bruders Conrad.
An den Münchner Kammerspielen
Während Schnyder die erste Hälfte der Spielzeit 1939/40 noch in Berlin tätig war, wurde er für zwei Inszenierungen als Gastregisseur an die Münchner Kammerspiele eingeladen. «Ich kann Ihnen diesen jungen und wirklich ehrlichen Idealisten sehr empfehlen», schrieb Hilpert am 6. März 1939 an Otto Falckenberg, Künstlerischer Leiter der Kammerspiele. «Er kann und ist etwas und ich würde mich besonders freuen, wenn er gerade in Ihrem Theater eine Arbeitsmöglichkeit fände, weil ich glaube, dass die freie und wunderbar künstlerische Luft Ihres Hauses ihn anfeuern, von Hemmungen freimachen und in jeder Hinsicht vervollkommnen wird.»
Schnyder war vom wohlwollenden Empfang und der künstlerischen sowie freundlichen, menschlichen Atmosphäre der Kammerspiele begeistert. Er bereitete sich voller Vorfreude auf die Proben von Erich Ebermayers70 «Romanze – Spiel um drei Generationen» aus dem Jahr 1936 vor, wozu er mit Falckenberg und dem geschäftlichen Direktor Waldeck fleissig über Besetzung und Bühnenbild korrespondierte. Dabei waren sie sich nicht immer einig.
«Ich habe übrigens bei meinem Telefongespräch mit Herrn Direktor Waldeck für die ‹Victoria› Frau Karin Evans empfohlen. Ich wäre Ihnen herzlich dankbar, wenn Sie die Dame empfangen würden. Sie hält sich Morgen ganz unverbindlich auf der Durchreise nach Italien in München auf.» Evans hatte bereits in Berlin unter Schnyders Regie gespielt. Das Treffen in München kam zustande, woraufhin die Schauspielerin verpflichtet wurde. An Falckenberg schrieb er: «Ich hoffe nun, dass ich (bei aller Mühe, die Ihnen bis jetzt aus meiner Verpflichtung erwachsen ist), die Kraft habe, eine Inscenierung zu machen, die künstlerisch persönlich und klar ist, dass Sie eben meine Verpflichtung nicht zu bereuen brauchen.»
Bereits zu Beginn von Schnyders Zeit als Gastregisseur entschloss sich die Leitung der Kammerspiele, ihn vom 1. September 1939 bis einschliesslich 31. August 1940 als Ersten Spielleiter zu verpflichten, sofern Direktor Hilpert ihn freigeben würde. Am 28. April bedankte sich Falckenberg bei Heinz Hilpert: «Herr Schnyder scheint mir eine leichte, bestimmte und zielbewusste Art zu haben, die scenischen Dinge zu sehen und zu behandeln und wenn ich nicht irre, so könnte er wohl die schon seit Jahren an unserm Theater bestehende Lücke ausfüllen. Ich möchte Sie daher bitten, Herrn Schnyder die Möglichkeit einer dauernden Verbindung mit unserm Hause zu gewähren», und bat ihn, Schnyder aus dem Vertrag zu entlassen. Doch so einfach gab Hilpert seinen Spielleiter nicht her: «Selbstverständlich wird Herr Schnyder von mir zu Ihnen beurlaubt mit der auch von Ihnen schon genehmigten Möglichkeit, dass er ein bis zwei Inszenierungen am Deutschen Theater in Berlin macht. […] Natürlich würde ich in einem Falle, wo Sie ihn dringendst benötigen, mit meinen Terminen auf Ihre Dispositionen die grösstmögliche Rücksicht nehmen.»
Erfolgreiche Gastinszenierungen
«Romanze» ist die Geschichte zweier Familien, deren Kinder sich über zwei Generationen jeweils unglücklich ineinander verlieben. «Erst in der dritten Generation findet sich das zum ewigen Bunde, was in der ersten schon zusammen wollte», stand im Programmheft. Das Stück war als Kritik an all denjenigen gedacht, die Profit der Liebe vorziehen und damit das Leben unwert machen. «Sowohl der Spielleiter wie auch der anwesende Autor konnten viele Male sich hinter dem wiederaufgehenden [Vorhang] dem sehr freundlichen Beifall der Zuschauer freuen», schrieb die Münchner Zeitung. «Auch sonst liess es die Regie an nichts fehlen. Die Darsteller, soweit sie die Altersabstände von 1892 bis 1932 […] überbrücken wussten, hatten kein leichtes Spiel», lobte das 8 Uhr-Blatt. «Die Stärke des Spielleiters [Franz Schnyder] scheint die Stellungsregie zu sein. Überraschend diese jähen Linien aus Menschen, diese Diagonalen! […] Trefflich jeder im Zusammenspiel», schrieb die Kölner Abendzeitung. «Die Aufführung […] war überwältigend gut in ihrer Dichtigkeit, Härte und inneren Hitze», schwärmte das Abendblatt. Selbst das publizistische Parteiorgan der NSDAP, der Völkische Beobachter, fand praktisch nur lobende Worte für Schnyder und seine Inszenierung.
Nach der Premiere reiste Franz Schnyder zur Erholung für ein paar Tage zu seinen Eltern nach Burgdorf. Postalisch erhielt er dort das Buch zum Stück «Im sechsten Stock». «Die Stellprobe ist auf den Freitag 12. Mai festgesetzt und [wir legen] grossen Wert darauf, dass die Premiere am Pfingstsonntag, den 28. Mai stattfindet», schrieb Direktor Waldeck am 5. Mai 1939. «Sollten Sie aber schon am Pfingstsamstag mit dem Stück herauskommen können, wäre uns dies besonders lieb, da erfahrungsgemäss, wenn zu Pfingsten schönes Wetter ist, […] an diesem Tag nur Herr Schnyder und das Ensemble anwesend ist», scherzte er und fügte an, dass Schnyder genau 13 Bühnenproben zugesprochen würden. Dieser hatte natürlich wieder einiges an der vorgeschlagenen Besetzungsliste auszusetzen und verlangte gleichentags Änderungen. Er werde am 10. Mai um vier Uhr per Flugzeug in München ankommen und wäre sehr dankbar, wenn er gerade zu dieser Zeit das Bühnenbild besprechen könnte. Bei Direktor Waldeck beklagte er sich zudem, dass die Tagesspesen von 20 Reichsmark nicht ausgereicht hätten, weshalb er eine Erhöhung auf 25 Reichsmark erbat. Doch Schnyder erhielt weder die verlangte Spesenerhöhung noch konnte er seine Besetzungswünsche umsetzen, was ihm Falckenberg in einem Begrüssungsbrief detailliert begründete.
Das Angebot eines festen Engagements in München stand plötzlich auf der Kippe. Durch ein Missverständnis oder ein Gerücht hatte Otto Falckenberg den Eindruck, dass Schnyder an den Proben persönliche Vorlieben ausspielte, sich gegen ihn aufspielen und schlecht über ihn reden würde. Dieser Vorwurf beschäftigte Schnyder so sehr, dass er den Intendanten bat, auf eine Verpflichtung in der kommenden Spielsaison zu verzichten. «Sie haben mir mit völligem Recht gesagt, dass, wenn ich ein ‹Sklavenhändler› und kein Kamerad sei, Sie die Mitglieder ihres Ensembles ‹von mir zu schützen haben›. Ich bin aber auch wiederum überzeugt, dass Sie niemals und unter gar keinen Umständen als überlegener und reifer Künstler einen solchen Vorwurf, der mich völlig aus dem Gleichgewicht gebracht hat, gegen mich erheben können, wenn nur ein oder zwei Mitglieder mit so schweren Klagen zu Ihnen kommen, sondern es wird bestimmt ein überwiegender Teil des Ensembles gewesen sein.» Er bat deshalb um eine Aussprache vor versammeltem Personal, um sich rechtfertigen zu können.
Tatsächlich war Falckenbergs Kritik aber nicht auf Rückmeldungen seitens der Darsteller zurückzuführen gewesen. Im Gegenteil: Hedwig Wangel, eine ältere Darstellerin, schrieb an Falckenberg, dass sich die Schauspieler keineswegs durch Schnyders Art benachteiligt gefühlt hätten. Vielmehr sei es grossartig gewesen, was er aus ihnen habe herausholen können und welchen lebendigen Zug er in das Stück gebracht habe. Umso mehr seien sie erstaunt, dass er nun von ihm, Falckenberg, eine Rüge erhielt. «Es wäre echt schade – wenn Herr Schnyder nicht bei uns bliebe – und wahrscheinlich lag es auch gar nicht in Ihrer Absicht – ihn so tief zu deprimieren, wie er es empfindet. Seine Inszenierung dieser Bücher wird es Ihnen ja zeigen, mit welcher Authentizität er mit uns gearbeitet hat & was wir Alle durch ihn gelernt haben. Herr Falckenberg – er ist 29 Jahre alt – also – so gesetzt – so abgeklärt – kann er ja noch gar nicht sein! Er glüht eben – das ist prachtvoll zu sehen!!»
Falckenberg rechtfertigte sich am 23. Mai mit jeweils einem Schreiben an Schnyder und Wangel.