Die Vossische Zeitung bezeichnete ihn als «schöne[n] Mensch[en] mit einer Leuchte aus den Augen. Was für ein Landsmann? Spricht besser Verse als Prosa, die noch etwas Ungenaues hat.» Auch Schnyders Vermieterin, Gertrud Grünbaum, kam zu der Vorführung. Sie war so begeistert, dass sie gleich den Eltern Meldung machen musste: «Namentlich in Peer Gynt war [er] so prachtvoll. […] Da ich auch dort war, war es mir ein Vergnügen von überall zu hören, dass er gut sei. Ich habe hier nun seine ganze Ausbildung mit ihm miterlebt, sah wie fleissig er ist. Er hat wirklich viel gearbeitet, so dass ihm der Erfolg zu gönnen ist. Überhaupt können Sie stolz auf Ihren Sohn sein, er ist [ein] anständiger Mann der ganz in diesem Beruf aufgeht. […] Da er bis Abends mit Proben u. Aufführungen mit Agenten betreffend Engagement besetzt ist, kommt er nun […] nicht zum schreiben. […] Er lässt Sie ganz herzlichst grüssen und meint, sobald er kann und sobald er ein Engagement abgeschlossen hat, Ihnen [zu] schreiben und auch die Kritiken [mitzusenden].»
Lilli Palmer erinnerte sich: «Noch bevor der letzte Vorhang gefallen war, waren die zwei Dutzend ‹Vielversprechenden› engagiert, wie das meistens der Fall war. Wir stoben in alle Himmelsrichtungen auseinander, Juanita nach München an die Kammerspiele, ich nach Darmstadt ans Landestheater.» Franz Schnyder erhielt bereits vier Tage nach dem Szenenabend eine Anstellung in Mainz. Ein Angebot aus Zürich lehnte er ab. Obwohl er dort mehr Gage bekommen hätte, zog er es vor, in Deutschland zu bleiben, um sein Hochdeutsch weiter zu verbessern.34 Dass er und Juana Sujo vor ihren Engagements aber noch in ein ganz besonderes Abenteuer verwickelt wurden, dafür sorgte Stefan Schnabel, der ebenfalls mit den beiden die Schauspielschule besucht hatte.
Debüt als Filmschauspieler: «Das Kalte Herz»
Stefan und sein älterer Bruder Karl Ulrich Schnabel35 waren die Söhne des bekannten Komponisten und Pianisten Artur Schnabel. Während Stefan eine Schauspielkarriere einschlug, blieb Karl Ulrich vornehmlich in den Fussstapfen des Vaters und arbeitete bereits in jungen Jahren als Klavierlehrer. Karl Ulrich war aber auch fasziniert vom Film und besuchte regelmässig Kinovorführungen. Eines Tages entschied er, selbst einen Film zu realisieren. Sein Bruder half ihm, die passenden Darstellerinnen und Darsteller zu finden.
Im Film «Das Kalte Herz» spielte Franz Schnyder den Peter Munk: mit der gleichaltrigen Juana Sujo als seine Mutter (oben), mit Stefan Schnabel als Holländer-Michel (Mitte) und mit Elfriede Gärtner als Lisbeth (unten).
Wilhelm Hauffs Märchensammlung «Das Wirtshaus im Spessart» hatte es Karl Ulrich Schnabel so angetan, dass er im Mai 1932 die Episode «Das Kalte Herz» zu einem Filmmanuskript verarbeitete. Darin geht es um den armen Köhler Peter Munk, der sein Herz beim bösen Holländer-Michel gegen Reichtum und Ansehen eintauscht. Schon am 14. Mai fanden die ersten Probeaufnahmen statt, mit Schnabels Bruder Stefan als Holländer-Michel und Juana Sujo, die zwar gleich alt war, aber dennoch die Mutter des Protagonisten spielte. Als Peter Munk war niemand Geringeres vorgesehen, als: Franz Schnyder.
Es war seine erste Hauptrolle in einem Film, und es sollte auch die einzige bleiben. An seiner Seite spielte Elfriede Gärtner,36 die zu dieser Zeit am Landestheater in Braunschweig war und die Sommerpause in Berlin verbrachte. Schnyder und sie waren die ideale Besetzung, sie harmonierten als Filmpaar wunderbar.
Während in der Filmstadt Babelsberg Filme der grossen Produktionsfirmen hergestellt wurden und europäische Stars ein und aus gingen, drehte die junge Equipe an Originalschauplätzen rund um das Studio mit bescheidenen Mitteln, aber viel Einfallsreichtum und Improvisationsvermögen. Gedreht wurde ohne Ton auf 16 Millimeter Schmalfilm, da Tonfilmapparate damals noch sehr unhandlich und teuer waren. Obwohl Karl Ulrich Schnabel oft ins Kino ging, fand er Tonfilme nicht unbedingt besser als gute Stummfilme, die noch immer regelmässig zu sehen waren. Tonfilme fokussierten damals noch sehr stark auf die Darstellung der neuen Technologie, also auf Dialog, Geräusche und Musik, oft auf Kosten einer spannenden Handlung.
Es war ein irrwitziges Projekt, und genau das schien Franz Schnyder gefallen zu haben. Gedreht wurde, sobald die benötigten Schauspieler verfügbar waren und das Wetter stimmte, die Lokalitäten gefunden und alle Requisiten vorhanden waren. Die märchenhafte, im Schwarzwald angesiedelte Kulisse wurde in Berlin zusammengesucht. Die Crew fuhr mit dem Dampfer nach Potsdam, um einige Szenen für Peter Munks Weltreise zu drehen. Da Aufnahmen bei der Friedenskirche im Schlosspark Sanssouci verboten waren, filmte Schnabel einfach heimlich. Manchmal mussten die Aufnahmen unterbrochen werden, weil die Orte zu überfüllt waren oder ihnen das Wetter einen Strich durch die Rechnung machte, worauf sie spontan umdisponierten. Der damals 23-jährige Schnabel finanzierte das Projekt aus eigener Tasche, weshalb die Mittel sehr limitiert waren und sogar ein Besuch mit Schnyder im Theaterverleihgeschäft zu teuer war. Die Kostüme mussten also anderswo beschafft werden. Da die Schauspieler und Helfer mit Begeisterung, aber unbezahlt an Schnabels Projekt mitwirkten, konnte er sie nicht verbindlich verpflichten. Die Hauptdarstellerin Elfriede Gärtner erschien am 5. Juli 1932 einfach nicht. Von ihrer Vermieterin erfuhr der Regisseur, dass sie bei einer anderen Filmgesellschaft drehte. Am nächsten Tag war Gärtner noch immer abwesend, ohne Schnabel benachrichtigt zu haben. Als am 7. Juli auch Stefan Schnabel nicht rechtzeitig für Dreharbeiten nach Berlin zurückgekommen war, drehten sie spontan eine andere Szene in dessen Zimmer, und Franz Schnyder half eigenhändig bei den Vorbereitungen mit. Karl Ulrich Schnabel lobte die Arbeit mit Schnyder in den höchsten Tönen und beschrieb ihn als «nett, […] bescheiden u. bereit» und «begabt».
Bei den Dreharbeiten zu «Das Kalte Herz» in der Umgebung Berlins filmt Karl-Ulrich Schnabel, auf dem Fahrrad stehend, Franz Schnyder.
Kurz vor Schnyders Theaterengagement in Mainz fuhren Karl Ulrich, Stefan und Franz im Sommer 1932 in die Sächsische Schweiz, um in der einzigartigen Sandsteinlandschaft zu drehen. In diesen Szenen besucht die Hauptfigur Peter Munk den bösen Holländer-Michel und flieht, nach einer kleinen List, vor ihm. Schnyder legte dabei eine beeindruckende Kletterpartie hin, die zeigt, dass er zu dieser Zeit in körperlicher Höchstform war.
«Das Kalte Herz» schaffte es zu Lebzeiten seiner Beteiligten nie ins Licht der Leinwand. Nach mehrmaliger Kürzung durch die Bildstelle des Zentralinstituts für Erziehung – der Film galt aufgrund seines 16-Millimeter-Formats als Kulturfilm – wurde am 12. Mai 1933 interessierten Fachleuten eine Rohfassung gezeigt. Doch zu einer Einigung mit den Kaufinteressierten kam es nie, denn bereits am Folgetag machte sich die Familie Schnabel frühmorgens auf den Weg an den Comersee, wo sie den Sommer verbrachte.37 Im Verlauf des Sommers beschloss sie, wegen der politischen Situation in Deutschland nicht mehr nach Berlin zurückzukehren. Karl Ulrich reiste als Einziger wieder nach Berlin. Doch dort wurde die Situation immer schwieriger. Mit der Wahl Adolf Hitlers zum Reichskanzler begann die Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung all jener, die als Gegner des Staats deklariert worden waren. Dies hatte auch eine Lenkung und Kontrolle des kulturellen Lebens zur Folge, die ab Anfang 1933 den verschiedenen Reichskammern unter der Führung des Reichspropagandaministers oblag. Die Reichstheaterkammer, die Reichsmusik- sowie die Reichsfilmkammer waren Pflichtorganisationen, denen alle Kulturschaffenden beitreten mussten, sofern sie öffentlich auftreten wollten. Karl Ulrich Schnabel beantragte den Beitritt zur Reichsmusikkammer zweimal, wurde aber 1935 abgelehnt und verlor das Recht zur weiteren Berufsausbildung.38 Am 10. Januar 1937 gab er sein erstes Klavierkonzert in New York, wo er sich anschliessend niederliess.
Mit der Machtergreifung der Nazis sah sich auch Juana Sujo gezwungen, nach England zu fliehen, von wo aus sie nach Argentinien zurückkehrte und dort 1938 ihre Filmkarriere begann. Lilli Palmer wurde unmittelbar nach der Ausbildung im August 1932 im Hessischen Landestheater in Darmstadt engagiert. Doch auch sie stellte fest, dass es «im deutschen Leben bedenklich zu brodeln» begonnen hatte. Sie und ihre Familie dachten vorerst noch nicht an Emigration, wollten erst abwarten. In ihrer Autobiografie schildert Lilli Palmer eindrücklich, wie in Darmstadt die Männer in SA-Uniform mit der Hakenkreuzarmbinde immer mehr in den Institutionen und Gängen, aber auch im Publikum