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Ecclesiae et scientiae fideliter inserviens


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beurteilen sei? In diesem Fall votiert Luther für den Grundsatz: Gnade vor Recht. Dies erläutert er unter Bezugnahme auf das Strafurteil:

      „Doch inn solchem fall, weil der mittel kern nicht wol zu treffen ist, so ist das zum nehesten dem zweck geschossen, das die gnade den vorgang habe fur dem recht. […] Denn wo es nicht will zu treffen sein, So ists besser und sicherer auff dieser seiten feilen denn auff jener, das ist, Es ist besser zu viel gnade denn zu viel straffe. Denn zu viel gnade kann man wider einzihen und wenigern. Aber die straffe kann nicht wider zu rücke komen, sonderlich wo es leib und leben oder glidmas betrifft“48.

      Den Grundsatz, der Gnade den Vorzug zu geben, begründet Luther pragmatisch: Während man einen Überschuss an Gnade nachträglich korrigieren könne, sei es schwierig, bisweilen sogar ausgeschlossen, vollstreckte Strafen zurückzunehmen. Luthers Beispiel, dass es unmöglich sei, die Todesstrafe oder Körperstrafen ungeschehen zu machen, zeigt an, wie existentiell ein Vorrang der Gnade für die Betroffenen sein kann.49

      Billigkeit bedeutet folglich in diesem Zusammenhang die Haltung der Entscheidenden, sich im Zweifel gnädig zu geben. Wie aber nimmt man eine solche Haltung ein? In Luthers Schriften wird dieses Vermögen häufig in ein Bild gebracht, das er aus seiner Übersetzung von Levitikus 20,4 gewinnt: „Wer nicht kan durch die finger sehen, der kan nicht regiren.“50 Roland Lehmann hat die diversen Fundstellen dieser Aussage in Luthers Werk zusammengetragen.51 Er erläutert: „Bildlich ist damit gemeint, dass man die Hand mit leicht gespreizten Fingern vor Augen hält, um damit teilweise die Fehler des anderen bewusst zu verdecken, ohne jedoch vollständig für sie blind zu sein.“52 Während Regierende einen scharfen Blick benötigten, um rechtes und unrechtes Handeln zu erkennen, mache allein ihre Entscheidung zu „partieller Fehlsichtigkeit“ ihr Regime für die Untertanen erträglich.

      Dieses bei Luther ausgeführte Billigkeitsverständnis lässt sich theologisch einordnen. Schon Gustaf Wingren wies darauf hin, dass es für den Vorrang der Gnade bei Luther nicht nur pragmatische, sondern auch theologische Gründe gebe, insoweit sich hierin Luthers Gottesbild spiegle. Gott strafe und vergebe. Die Vergebung jedoch überwiege. Dies könne für die menschliche Praxis nicht folgenlos sein:

      „Aus alledem folgt, daß irdische Gesetze nicht nach Maßgabe eines unveränderlichen himmlischen Gesetzes korrigiert werden, sondern durch Gottes ‚eigentliches‘ Werk, das im Evangelium beschlossen ist und auf Vergebung zielt. Deshalb drängt Billigkeit, als ‚Teil der Gnade’, wenn sie das Gesetz ‚meistert’, immer auf Milderung.“53

      Wer menschliches Handeln als vom göttlichen her orientiert begreift, sieht in der Spannung zwischen Gnade und Strenge die menschliche Rechtsanwendung als gehalten an, der Gnade zum Durchbruch zu verhelfen, um Gottes gnädiges Handeln zu imitieren. Auch Jason Gehrke entdeckt diese Idee bei Luther: „Luther thus sets up epieikeia as a share of divine mercy (pars gratiae) ministered in public life by the authorities, and by every person in his or her daily life with others.“54 Insoweit die Regierenden zur Imitation der göttlichen Gnade berufen seien, müsse sich dies in einer Praxis ausdrücken, die manche Verfehlungen gnädig übersehe. Wie es bei Gott nur die Gnade ist (sola gratia), die Menschen errettet, so ist es häufig nur menschliche Gnade, die menschliches Leben bestehen lässt.

      Ernst Troeltschs These, dass Luther vor allem im Strafrecht Billigkeit abgelehnt habe, ist angesichts des Vorgesagten kritisch zu sehen.55 Troeltsch schreibt, Billigkeit gelte bei Luther

      „nicht auf dem Gebiete des Staatsrechtes […]. Auch nicht auf dem des Strafrechts. Hier ist vielmehr sein strenger Erbsündenbegriff und seine Forderung strenger Zucht, seine Verachtung der Masse, seine Auffassung der Obrigkeit als Stellvertreterin der göttlichen Strafe und Vergeltung geneigt zur äußersten Strenge“56.

      In Troeltschs Analyse nimmt Luther die Regierenden in die Pflicht, ihren Untertanen gegenüber Gottes Gerechtigkeit zum Ausdruck zu bringen. Doch ist es dann nicht ebenso ihr Auftrag, Gottes Güte zu imitieren? Die Aufforderung, Regierende müssten bisweilen „durch die Finger sehen“, ist ein Hinweis darauf.

      4. Fazit

      Unter Luthers Billigkeitsbegriffen vereinigen sich verschiedene Traditionen der Überwindung rechtlicher Rigidität. Mit Billigkeit meint Luther mindestens zwei Instrumente zur Flexibilisierung des Rechts: das römische und von Hostiensis wiederentdeckte rechtliche Applikationsprinzip und die Aristotelische Einzelfallgerechtigkeit, beide interpretiert im Licht biblischer Beispiele und christlicher Motive.

      Wie schon Thomas von Aquin setzt Luther beide Theoriestränge begrifflich ineinander. Thomas‘ Gleichsetzung „epieikeia, quae apud nos dicitur aequitas“57 findet bei Luther ihre Entsprechung in der Aussage: „Solche tugent odder weisheit, […] Die heyst auff Kriechisch ‚Epiikia‘, auf Latinisch ‚Equitas‘. Ich nenne sie ‚Billicheit‘.“58 Dass diese bis in die Formulierung hinein auffällige Ähnlichkeit kein Zufall ist, bemerkt Jason Gehrke: „Luther’s adequation of aequitas and epieikeia indicates a debt to scholastic theology and law far more than the bare quotation might seem to indicate.“59

      Der Zusammenfall von aequitas und Epikie, den Luther bei Thomas nachvollzieht, hatte für die Billigkeitsgeschichte eine problematische Folge. Denn durch die Gleichsetzung wurde Billigkeit in ihrer Bedeutung als in der Rechtsanwendung grundlegend wirksames Applikationsprinzip marginalisiert. Thomas‘ Aristoteles-Relektüre schrumpfte die aequitas auf Epikieniveau. Sie wurde, schreibt Thomas Schüller, „in den Epikierahmen verpflanzt, wo sie im Gefolge einer immer stärker sich ausbreitenden scholastischen Kasuistik zu einem ‚bloßen‘ Interpretationsprinzip für besonders gelagerte Ausnahmefälle verkümmert.“60 Nachfolgende Rechtstheoretiker verstärkten diese Tendenz.61 Die Billigkeit wurde zu einem von anderen Flexibilitätsinstrumenten, die Einzelfallhärten zu verhindern suchten, wie Dispens, Toleranz oder Dissimulation.

      Dieses reduzierte Verständnis wirkt bis in die Moderne hinein. Bis heute meint Billigkeit häufig nur einen Ausschnitt dessen, was rechtstheoretisch denkmöglich wäre. Wie Thomas kann man Luther anlasten, durch die Vermischung von Epikie und aequitas eine differenzierte Theorie beeinträchtigt zu haben. Zugleich findet man jedoch in Luthers Schriften distinkte Denkfiguren und anschauliche Beispiele vor, die Kanonistinnen und Kanonisten einladen, ihre eigene plurale Billigkeitsgeschichte wiederzuentdecken und sich von ihr für moderne Theorien inspirieren zu lassen, wie Kirchenrecht mit dem Problem des spannungsreichen Verhältnisses von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit umgehen könne.

      1 Luther, Martin, Dictata super Psalterium, in: Knaake, Joachim K. F. u. a. (Hrsg.), D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe (WA), Bd. 3, Weimar 1885, 83-91, hier: 91.

      2 Vgl. Schüller, Thomas, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit. Eckpfeiler kirchlicher Rechtskultur im Spannungsfeld von Gesetz und Liebe, in: Communio 46 (2017), 416-424; englische Version: ders., Justice and Mercy. An Enigmatic Yet Crucial Relationship for the Application of Canon Law, in: Ecclesiastical Law Journal 20 (2018), 51-58.

      3 Vgl. Ombres, Robert, Justice and Mercy. Canon Law and the Sacrament of Penance, in: Cranmer, Frank u. a. (Hrsg.), The Confluence of Law and Religion. Interdisciplinary Reflections on the Work of Norman Doe, Cambridge 2016, 131-143.

      4 Vgl. Martens, Kurt (Hrsg.), Justice and Mercy Have Met. Pope Francis and the Reform of the Marriage Nullity Process, Washington D.C. 2017.

      5 In: Acta Apostolicae Sedis 107 (2015), 399-420, hier: 416; dt. Übersetzung siehe online: w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_letters/documents/papafrancesco_bolla_20150411_misericordiae-vultus.html, Zugriff am 04.08.2017.

      6 Epistel am 4. Adventssonntag, Phil. 4,4-7, in: Knaake u. a. (Hrsg.), Luthers Werke (Anm. 1), Bd. 10, Erste Abtheilung, 2. Hälfte, Weimar 1925, 170-187, hier: 174.

      7 Ob Kriegsleute auch im seligen Stand sein können, in: Knaake u. a. (Hrsg.), Luthers Werke (Anm. 1), Bd. 19, Weimar 1897, 616-662, hier: 632f.

      8 Epistel am 4. Adventssonntag, Phil. 4,4-7, in: WA 10.1.2 (Anm. 6), 174.

      9 Vgl. Hahn,