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Ecclesiae et scientiae fideliter inserviens


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unvermeidbare Insensibilität gegenüber dem Variantenreichtum des menschlichen Lebens aufwiesen. Stelle sich eine Fallkonstellation ein, die im Gesetz nicht angemessen bedacht wurde, sei dies ein Anlass für Epikie. Die bzw. der vom Gesetz Betroffene müsse das Gesetz „verbessern, wie es ja auch der Gesetzgeber selbst getan hätte, wenn er dabeigewesen wäre; und wenn er diesen Fall gewußt hätte, hätte er ihn ins Gesetz aufgenommen“16.

      In diesem Ansatz sind es die vom Gesetz Verpflichteten, die unter Berufung auf die Epikie in ihrem Fall zu einer das Gesetz korrigierenden Lösung finden. Dass dies nicht willkürlich geschehen kann, zeigt Aristoteles an, indem er die Betroffenen sich in einem persönlichen Prüfverfahren auf den Gesetzgeber beziehen lässt, um dessen hypothetische Bewertung des Sachverhalts zu erheben. Es seien nur die Fälle mittels Epikie zu behandeln, in denen davon auszugehen sei, dass der Gesetzgeber eine Verbesserung der Norm vorgenommen hätte, wenn er mit dem Einzelfall konfrontiert worden wäre. Hierin liegt ein intersubjektives Moment der Epikie, das der Willkür der einzelnen in der Bewertung der eigenen Umstände Grenzen setzt.

      Die Aristotelische Konzeption bemüht Luther nicht allein dadurch, dass er formal auf die Nikomachische Ethik verweist. Vielmehr nimmt er mehrere Gedanken des antiken Vorbilds in seinen eigenen Entwurf auf. Jedes Recht leide an der menschlichen Begrenztheit, alle Fallkonstellationen zu berücksichtigen: „Denn weil das recht mus und sol einfeltiglich mit dürren, kurzen worten gestellet werden, kan es gar nicht alle zufelle und hindernis mit einfassen.“17 Eine Präzision, die dem menschlichen Leben umfassend Rechnung trage, sei undenkbar: „Den so spitzig und gewis wird kein recht nymer mehr erfunden werden, das alle zufelle und umbstende fassen muge.“18 Da das Recht daran scheitere, Einzelfalladäquanz sicherzustellen, erzeuge strikte Rechtsanwendung Unrecht. Hier sei Epikie gefragt.

      Epikie bedeute, den Ausnahmefall zu berücksichtigen. Das Leben sei vielfältiger als das Recht. Dem trage ein billiges Verfahren Rechnung:

      „Also müssen und sollen alle rechte, wilche auff die that gestellet sein, der Billigkeit als der meysterynn unterworffen sein umd der manchfeltigen, unzelichen, ungewissen zufelle willen, die sich begeben können und niemand sie kan zuvor abmalen odder fassen.“19

      Die Billigkeit als Meisterin des Rechts ist indes nicht darauf aus, die gesetzliche Ratio zu hintergehen. Vielmehr versteht Luther sie als vernunftgemäßen Umgang mit dem Gesetz, das es so anzuwenden gelte, dass der eigentlichen Regelungsabsicht entsprochen werde. Martin Heckel erläutert:

      „Die ‚Billigkeit‘ ist für Luther die hohe Form der rationalen Gesetzestreue, die durch vernünftige und verantwortliche Rechtsauslegung und -anwendung die Gerechtigkeit der Entscheidungen nach dem Geist des Gesetzes auch gegen dessen Buchstaben gewährleisten muss.“20

      Auch dieses Billigkeitsverständnis hat theoriegeschichtliche Vorbilder. Zu erkennen ist eine Nähe zu Thomas von Aquin, der Aristoteles‘ Ansatz scholastisch weiterentwickelte. Wie Aristoteles sieht Thomas billiges Handeln als in den Fällen gefragt, in denen sich ein Widerspruch zwischen dem positiven Recht und dem Naturrecht abzeichne.21 Dieses Problem komme notwendigerweise vor, weil menschliche Gesetze sich nicht als jedem Fall angemessen erwiesen. Ein menschlicher Gesetzgeber könne nur übliche Fallkonstellationen berücksichtigen, nicht aber eine immer passgenaue gesetzliche Lösung vorhalten. Unausweichlich konfligierten Gesetze daher in Einzelfällen mit der Einzelfallgerechtigkeit und dem Gemeinwohl.22 Sei dies in einer Angelegenheit der Fall, sei es schlecht, sich an den Buchstaben des Gesetzes zu klammern. Stattdessen sei ein billigkeitsgemäßes Handeln gefragt. Die billige Entscheidung folge der ratio iustitiae. Hier begegnen sich Thomas‘ und Luthers Ansatz. Beide verstehen die Billigkeit als die Verwirkung des eigentlichen Gesetzes. Mithilfe der Billigkeit sei dem Naturrecht, das sich hinter dem gesatzten Recht abzeichne, zum Durchbruch zu verhelfen. Um zu ihm vorzudringen, gelte es, den Buchstaben des positiven Gesetzes hinter sich zu lassen.

      2. Anwendungsprinzip

      In der Lektüre von Luthers Texten wird freilich zugleich deutlich, dass Luther ein Urteilen gemäß der Billigkeit nicht auf Sonderfälle beschränkt wissen will. Während er wie Aristoteles die Billigkeit zur Lösung von Einzelfällen empfiehlt, in denen das gesatzte Recht die Gerechtigkeit verfehlt, vertritt er doch eine breitere Bedeutung der Billigkeit, insoweit er sie in jeder Rechtsauslegung und -anwendung am Werk sieht. So warnt er in der Rechtsanwendung generell vor einer rigiden Durchsetzung des Rechts: „Item alzuscharff wird Schertig. Darumb mus man zu beiden seiten einschlahen und die billickeit, lassen alles rechts meisterin sein“23. Der Hinweis, es sei immer notwendig, „zu beiden seiten einschlahen“, gibt der Billigkeit einen Sitz in der Bewertung jedes Falles. Indem Luther „die billickeit, lassen alles rechts meisterin sein“, rückt er sie als grundlegendes Applikationsprinzip in den Mittelpunkt jeglicher Rechtsanwendung. Dies betont auch Martin Heckel, der es als Kern des Lutherischen Billigkeitsverständnisses ausmacht, dass dieser Auslegung und Anwendung des Rechts im Spiegel des Naturrechts reflektiere. Billigkeit sei bei Luther eine „naturrechtliche Auslegungs- und Anwendungsmaxime“, die „das ius strictum limitiert“24. Das strenge Recht werde gemildert durch ein Prinzip, das im Zuge jeder Rechtsanwendung dem natürlichen Gerechten zum Durchbruch verhelfen soll.

      Hierdurch stellt sich Luther in eine Tradition, die antike und kanonistische Vorbilder hat. Die Billigkeit als Auslegungs- und Anwendungsprinzip (aequitas) entstammt dem römisch-rechtlichen Denken. Ihre Wiederentdeckung im mittelalterlichen Recht erfolgte im Rahmen der kirchlichen Rechtsanwendungstheorie und steht mit Heinrich von Susa („Hostiensis“) in Verbindung, der in seiner Summa aurea von 1253 drei Annäherungen an den Billigkeitsbegriff vorlegte.25 Hostiensis befreite die Billigkeit aus ihrer reduzierten Rolle einer Gesetzeskorrektur im Einzelfall und rückte sie in das Zentrum der Rechtsanwendung. Sie ist bei ihm nicht mehr nur Tugend, sondern modus rationabilis, mit dessen Hilfe jede Rechtsanwenderin bzw. jeder -anwender das Recht so auf den Fall zu beziehen habe, dass es von der Barmherzigkeit gemildert werde. Den Ertrag dieser Lesart für die kanonistische Methodologie hielt Thomas Schüller fest. Bei Hostiensis wirke die Billigkeit

      „als rechtlicher Garant für die Einbeziehung aller Umstände bei der Urteilsfällung […], ist somit das zentrale Rechtsinstitut auf der Applikationsebene des Rechts, das in ausgezeichneter Weise Recht und Barmherzigkeit unter der Grundforderung nach einer der salus animarum dienenden Rechtspraxis realisiert.“26

      In dieser Fruchtbarmachung der Billigkeit für die Applikationstheorie liege der Wert der von Hostiensis wiederentdeckten römischen Billigkeitskonzeption gegenüber anderen auf Ausnahmefälle beschränkten Billigkeitsvorstellungen seiner Zeit. Dieser Gedanke taucht nun bei Luther ebenso auf. Dies zeigt, dass sich in Luthers Billigkeitsbegriff diverse Traditionen der Überwindung rechtlicher Rigidität miteinander vereinigen, wie Jason Gehrke bemerkt: „Even when Luther invoked Aristotle, he often had in mind a Roman or Ciceronian version of the concept which had survived long into the Middle Ages.“27

      Billigkeit steht bei Luther im Zusammenhang der Urteilsfindung. Es geht um einen Zugang zur Rechtsanwendung, der sich souverän vom Buchstaben des Gesetzes löst und dabei vernünftig bleibt. Dies entfaltet Luther in radikaler Weise in Bezug auf Entscheidungen in zivilen Streiten. Der Sache gerecht werde nur ein Urteil gemäß der Liebe und der Natur:

      „Denn wo du der liebe nach urtehlst, wirstu gar leycht alle sachen scheyden und entrichten on alle recht buecher. Wo du aber der liebe unnd natur recht auß den augen thust, wirstu es nymmer mehr so treffen, das es Gotte gefalle, wenn du auch alle recht buecher und Juristen gefressen hettist. Sondern sie werden dich nur yrrer machen, yhe mehr du yhn nach denkest. Ein recht gut urtehl das muß und kann nicht auß buechern gesprochen werden, sondern aussz freyem synn daher, als were keyn buch.“28

      Doch wie kann ein Urteil „aussz freyem synn“ gelingen, das nicht völlig beliebig ist? Hier ist in Luthers Rechtsanwendungstheorie der Ort der Vernunft, die zu ermessen hat, wie eine Norm in Anwendung zu bringen sei:

      „Darumb muß eyn furst das recht ja so fast ynn seyner hand haben als das schwerd unnd mitt eygener vernunfft messen, wenn unnd wo das recht der strenge nach zu brauchen odder zu lindern sey, Also das allzeyt über alles recht regiere unnd das uberst