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Ecclesiae et scientiae fideliter inserviens


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Passus näher: Luthers

      „Maßstab ist die Vernunft, wobei alles positive Recht nicht nur der Vernunft, sondern auch der Liebe untergeordnet ist. Darum ist die Billigkeit […] für Luther ein wichtiges Kriterium für den Vollzug des Rechts.“30

      Die Liebe ist indes keine Gegenspielerin der Vernunft, sondern in der Vernunft selbst angelegt: „Aber solch frey urteyl gibt die liebe und naturlich recht, des alle vernunfft voll ist.“31 Indem Luther neben die Liebe das „naturlich recht“ stellt, gibt er der Vernunft eine normative Orientierung. In diesem Sinne weist Martin Heckel nachvollziehbar darauf hin, dass Luther ein vernunftrechtliches Naturrechtsverständnis vertrat, insoweit er die menschliche Vernunft für erkenntnisfähig hielt, die natürliche Normativität zu entdecken und zur Grundlage menschlichen Entscheidens zu machen.32

      Luthers Fokussierung auf die Vernunft derer, die billigkeitsgemäß zu handeln berufen sind, zeigt zugleich an, dass billiges Entscheiden für ihn eine individuelle Aufgabe ist und wie bei Aristoteles und Thomas die Qualität einer Tugend hat. In einer Linie mit Klugheit und Frömmigkeit weist Luther die Billigkeit als Angelegenheit der Herzensbildung aus: „Derhalben die richter und herrn müssen hie klug und frum sein und die Billicheit aus der vernunft messen und also denn das rechte lassen gehen oder anstehen.“33 Ob Luther hierbei Hostiensis vor Augen hatte, ist nicht ausgemacht, unwahrscheinlich ist es aber nicht. Immerhin bestimmte Hostiensis die Billigkeit als vernünftige Weise richterlicher Rechtsanwendung, die geeignet sei, die Strenge des Rechts im Zaum zu halten: „Aequitas est modus rationabilis, regens sententiam et rigorem, haec enim est aequitas, quam iudex, qui minister iuris est, semper debet habere pro oculis.“34 In ähnlicher Weise deutet Luther Billigkeit als Richtertugend: Die Richter seien „leges vivae seu anima legis“35 und dergestalt von der Tugend zur rechten Rechtsanwendung beseelt dazu berufen, ein angemessenes Urteil zu fällen.

      Doch was bedarf es hierzu? Notwendig sei ein Blick auf das Gesamtbild und ein Sensus für die Motivlage auf Seiten derer, über die es zu urteilen gelte. Billigkeit erscheint in diesem Zusammenhang als Kompetenz zur Berücksichtigung der Beweggründe in der Urteilsfindung, als „tugent odder weisheit, die also kan und sol das strenge recht lencken und messen, nach dem sich die felle begeben, und einerley guts odder böses werck nach unterscheid der meynunge und der herzen richtet“36. Die Billigkeit ist die Fähigkeit, die gute oder böse Absicht hinter der Tat zu erkennen und diese Erkenntnis in das Urteil einfließen zu lassen. Eine wertende Gesamtbeurteilung einer Tat gelinge nur auf Basis der Billigkeit und damit einer Beurteilung, bei der die Vernunft der Richtenden das zu beurteilende Gesamt – Handlung und Motive – in ein Verhältnis setze, um einen umfassenden Eindruck zu erhalten.

      3. Maßhaltung

      Neben der Kompetenz zu vernünftigem Urteilen und einer realistischen Gesamtbewertung von Handlung und Haltung verbindet Luther mit der Billigkeit vor allem die Ausgewogenheit in der Urteilsbildung. Er setzt auf Abwägung und Ausgleich, so wie Isidor von Sevilla, dessen Überlegungen in das Decretum Gratiani eingingen: Wer richte, halte eine Waage in der Hand, um Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu verteilen und im Ausgleich von notwendiger Strenge und angemessener Milde zu einem Urteil zu kommen.37 Ähnlich fragt sich Luther, wie man Recht in adäquater Weise zur Anwendung bringen könne: durch strikte Durchsetzung einer Norm oder durch schonenden Umgang mit dem Gegenüber? Empfehlenswert sei ein Mittelweg: „Masse ist inn allen dingen gut.“38 Auch dies erinnert an Hostiensis. Dieser sieht die Leistung der Billigkeit als die einer Mittlerin zwischen der strengen Durchsetzung des Gesetzes und einer barmherzigen Dispens von der Verpflichtung: “Aequitas vero est media inter rigorem et dispensationem sive misericordiam.“39 Hier erscheint die aequitas, wie bei Luther, als Anwendung des Gesetzes auf einem mittleren Weg, unter der Vorgabe des Maßhaltens.

      Dieses Maßhalten ist bei Luther Tugend guter Rechtsanwenderinnen und -anwender. Er nennt diese Tugend auch „gelindikeyt“. Bei ihr geht es um eine Haltung des sich Mäßigens. Das Mäßigen hat eine temperierende Wirkung. Auch bei Hostiensis ist es die Billigkeit, die eine Entschärfung bewirkt. Sie sei die Weise, die Gerechtigkeit durch Barmherzigkeit zu mildern: “Aequitas est iustitia dulcore misericordiae temperata“40.

      Doch was meint Rechtsanwendung unter dem Vorzeichen der gelindikeyt? Diese befähige die Rechtsanwenderinnen und -anwender zu einem maßvollen Urteil unter dem Vorzeichen der Gleichheit. Sie bezeichne die Leistung der bzw. des Urteilenden, sich selbst zurückzunehmen und nicht die eigenen Gerechtigkeitsvorstellungen zum Maßstab des Rechten zu machen:

      „gelindikeyt, das ist eyn tugend, das sich eyner lenkt und schikt, gemeß und eben macht eynem andern, unnd ist eynem wie dem andern, und yderman gleych, der nicht sich selb zum leysten und zur regel macht und will, das sich yderman nach yhm lenken, schiken und messigen soll.“41

      Maßhalten sei üblicherweise ein Gebot in allen möglichen Alltagsvollzügen – beim Essen oder Trinken –, aber ebenso angeraten, wenn es darum gehe, dem Gegenüber in einem Urteil gerecht zu werden. Doch was ist ein maßvolles Urteil? Dies verdeutlicht Luther an anderer Stelle nicht durch Beschreibung einer ausbalancierten Praxis, sondern durch Problematisierung von unausgewogenen Urteilen, von laxer Nachgiebigkeit auf der einen und ungebührlicher Strenge auf der anderen Seite. Beide seien gleichermaßen schädlich. Die fatale Wirkung einer zu großen Milde schildert Luther in einem drastischen Bild, in dem er auf einen Vater Bezug nimmt, der seinen Sohn „verzieht“:

      „Gleich wie ein Vater keine groesser unveterliche That an seinem kinde begehen kan, denn das er der ruten sparet und dem kindlein seinen mutwillen lesst. Denn mit solcher toerichter liebe zeucht er zu lezt dem hencker einen son, der in darnach anders ziehen mus mit dem strick an den galgen.“42

      Wie in der Erziehung diene die Strenge in der Rechtsanwendung dazu, die Willkür der Rechtsadressatinnen und -adressaten zu begrenzen und ihren Mutwillen sozialverträglich abzumildern. Zuviel der Gnade schade, denn sie untergrabe den pädagogischen Effekt des Rechts. Dies notiert Luther mit Blick auf die Fürsten und ihren Regierungsstil:

      „Denn wo eitel gnade da ist, und der Fürst sich einen jedern melken und auff dem maul trumpeln lesst, nicht strafft noch zurnet, so wird nicht allein der Hof, sondern auch das land vol böser buben, geht alle zucht und ehre unter.“43

      Diesen Argwohn gegenüber einer rechtsauflösenden Folge der Billigkeit habe Luther nicht zuletzt in Reflexion der Bauernaufstände ausgebildet, meint Roland Lehmann.44 Der Versuch, die Herrschaftsverhältnisse gewaltsam umzustürzen, habe sein Vertrauen in den Wert von Nachgiebigkeit schwinden lassen. Eine Milderung des strengen Rechts dürfe nie zulasten der natürlichen Ordnung gehen.45

      Die Sorge vor einer korrumpierenden Wirkung überfließender Billigkeit kennt gleichwohl ein Pendant, insoweit Luther genauso vor den Nebeneffekten zu großer Strenge warnt. Wiewohl Strenge wichtig sei, schade sie bei Überdosierung: „Widderumb, wo auch eitel odder zu viel zürnen odder straffens ist, da wird Tyrraneh aus und können die fromen nicht odem holen fur teglicher furcht und sorgen.“46 Strenge nimmt den Menschen den Atem. Und sie weist eine problematische Neigung zur Ungerechtigkeit auf. Zur Illustration dieses Problems bemüht Luther das Bild des Hausvaters, der bei Übertretungen seiner Hausregel gegenüber seinem Gesinde eine differenzierte Sanktionspraxis zu entwickeln habe:

      „Als ein hauswird setzt seinem gesinde ein recht, was sie diesen odder den tag thun sollen. Da stehet das recht: Wer das nicht thut odder helt, sol seine straffe leyden. Nu mag der eins kranck odder sonst on seine schuld verhindert werden. Da höret das recht auff, und were gar ein wütiger hausherr, der seinen knecht und solchs nachlassen willen wolte straffen.“47

      Der Regelübertritt müsse im Normalfall eine Strafe nach sich ziehen. Krankheit oder ein anderer Grund, der ohne Eigenverschulden der bzw. des Verpflichteten die Einhaltung der Regel verhindere, durchbrächen gleichwohl diese Logik. Ein Hausherr, der dennoch strafe, handle nicht rechtens, sondern verfehle die Gerechtigkeit: „Da höret das recht auff“.

      Neben diesen eindeutigen Fällen, in denen ein billiges Urteil das Gegenüber als entschuldigt versteht, gibt es komplexere Fälle, in denen