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Ecclesiae et scientiae fideliter inserviens


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      31 Vgl. Kalde, Franz, Pfarrpastoralrat, Pfarrgemeinderat und Pfarrvermögensverwaltungsrat, in: HdbKathKR3 (Anm. 16), 737-745, hier: 737-742.

      JUDITH HAHN

      Recht, Reform, Reformation. Luthers Billigkeitsverständnis als Impuls für die aktuellen Debatten um Recht und Barmherzigkeit

      Gerechtigkeit und Barmherzigkeit als Handlungsprinzipien konstruktiv aufeinander zu beziehen, ist ein ungelöstes (und unlösbares) Problem. Ihr Verhältnis ist ein Dauerthema in allen Normwissenschaften. Es gibt wohl nur wenige Kanonistinnen und Kanonisten, die sich nicht schon einmal – und sei es einleitend oder schlussfolgernd – auf das Problem bezogen hätten, dass Recht, ganz gleich wie pastoral man es auslegt, am Kern der christlichen Botschaft vorbeizielt. Das Recht ist abstrakt, es sieht die Vielzahl der Fälle. Die Barmherzigkeit wirkt konkret; sie ist am einzelnen und seinem Schicksal interessiert. Ein berühmter Theologe hielt einmal fest: „Equitas respicit personas, Iustitia autem causas.“1 Die Billigkeit nehme das Individuum wahr, die Gerechtigkeit Fälle. Damit ist nicht alles, aber doch einiges gesagt, um die Spannung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu kennzeichnen.

      Wie man Brücken bauen könne zwischen den beiden Perspektiven, beschäftigt die Kanonistik durchlaufend. Auch in der vergangenen Zeit hat sie der Fragestellung Aufmerksamkeit gewidmet. Thomas Schüller nahm sich das Thema jüngst erneut unter rechtsanwendungstheoretischer Perspektive in der Zeitschrift Communio vor.2 Robert Ombres widmete dem anglikanischen Kanonisten Norman Doe einen Beitrag über Gerechtigkeit und Barmherzigkeit im Angesicht des Bußsakraments.3 Und Kurt Martens behauptet gar im Titel seines Bandes zu Mitis Iudex, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit seien sich in der kirchlichen Eheprozessreform begegnet.4

      Das Thema ist also mit unverminderter Aktualität präsent. Hierzu tragen Äußerungen der Kirchenleitung bei, nicht zuletzt die Texte, die rund um das Jahr der Barmherzigkeit 2015 und 2016 entstanden. An einer Verhältnisbestimmung von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit versucht sich zum Beispiel Franziskus in der Verkündigungsbulle Misericordiae vultus zum Heiligen Jahr:

      „Wenn Gott bei der Gerechtigkeit stehen bliebe, dann wäre er nicht mehr Gott, sondern vielmehr wie die Menschen, die die Beachtung des Gesetzes einfordern. Die Gerechtigkeit alleine genügt nicht und die Erfahrung lehrt uns, dass wer nur an sie appelliert, Gefahr läuft, sie sogar zu zerstören. Darum überbietet Gott die Gerechtigkeit mit der Barmherzigkeit und der Vergebung. Das bedeutet keinesfalls, die Gerechtigkeit unterzubewerten oder sie überflüssig zu machen. Ganz im Gegenteil. Wer einen Fehler begeht, muss die Strafe verbüßen“ (Nr. 21)5.

      Diese Passage offenbart die Komplexität des Themas, das auf verschiedenen Ebenen angesiedelt ist. Es geht um Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes und um ihr irdisches Pendant. Als wäre dies einfach zu denken, beschreibt der Text, dass es zum Wesen Gottes gehöre, die Gerechtigkeit hin auf die Barmherzigkeit zu transzendieren. Die theozentrische Ebene, in der die Barmherzigkeit das Größere der Gerechtigkeit ist, wird der menschlichen Praxis vor Augen gestellt. Wer sich im Hier und Jetzt auf die Gerechtigkeit versteife, könne Ungerechtigkeiten erzeugen. Das Rechte breche sich an einer rigiden Gerechtigkeitsforderung. Zugleich wird angedeutet, dass es ohne Gerechtigkeit nicht geht. Das skizzierte Gerechtigkeitsverständnis in seinem vergeltungstheoretischen Ton ist wiederum diskussionswürdig.

      So wirft die zitierte Passage mehr Fragen auf, als sie beantwortet. Antworten, soweit sie sich überhaupt finden lassen, müssen vorsichtig, situativ und sich ihrer begrenzten Tragweite bewusst sein, aber ebenso praktisch, konkret und anwendungsorientiert. Einen Meister für solche Problemfälle, für praktische Antworten in unsicherem Terrain, feierten die Kirchen mit Martin Luther im Reformationsjubiläum 2017. Luthers Überlegungen klingen selten vorsichtig. Doch wissen sie um ihre begrenzte Belastbarkeit, bei gleichzeitiger Notwendigkeit, praktische Lösungen anzubieten. Luthers Umgang mit Gerechtigkeit und Barmherzigkeit ist theologisch sensibel und politisch robust, umsichtig und pragmatisch, von Vorsicht getragen und mit Nachdruck vorgetragen. Widersprüchlich also, wie das Thema selbst. Gerade seine disparaten Annäherungen an Gerechtigkeit und Barmherzigkeit verweisen auf die Komplexität der Fragestellung, die sich einfachen Antworten entzieht. Der Reformator ist überzeugt: Das strenge Recht macht gutes Miteinander unmöglich, zu großes Entgegenkommen hingegen ebenso.

      Einen Versuch der Balancierung bietet die Billigkeit. Sie taucht in seinen Schriften durchlaufend und variantenreich auf. Die Anzahl der Textpassagen, in denen der Reformator über eine angemessene Rechtsanwendung nachdenkt, sind Legion. Auch die Begriffe, die Luther hierfür nutzt, sind vielgestaltig. Er spricht von „epijkia, equitas, clementia, comoditas“ oder „moderatio“6, genauso von „Billicheit“7 oder „gelindikeyt“8. Diesen Nuancierungen kann ich vorliegend nicht gerecht werden; wer hierzu mehr lesen will, kann dies an anderer Stelle tun.9

      In diesem Beitrag geht es mir mit Blick auf die Kanonistik um die Frage, was Luther mit seinen Ausführungen zur Billigkeit zu den Debatten um Gerechtigkeit und Barmherzigkeit beitragen kann, die wir heute noch führen. Sein Oeuvre findet diesbezüglich (und auch in anderen Fragen) in der Kanonistik bisher noch wenig Beachtung. Das ist zum einen nachvollziehbar, weist seine Rechtskritik Luther doch nicht als natürlichen Verbündeten der Kanonistik aus. Ein vertiefter Blick in seine Texte zeigt jedoch an, dass man ihn inhaltlich nicht ignorieren sollte. Denn anders, als man es angesichts seiner Fundamentalkritik am kanonischen Recht erwarten würde, brach Luther nicht mit den kirchenrechtlichen Denktraditionen seiner Zeit, wie der Theologe Jason Gehrke bemerkt: „he drew constructively upon the civil and canon law traditions of the Middle Ages, which he had famously cast into the flames at the Elster Gate in 1520.“10 Neben Material, das ihm die hochmittelalterliche Legistik präsentierte, bediente sich Luther mancher Ideen aus der Kanonistik. Dies ist in besonderer Weise in seinen Ausführungen zur Billigkeit erkennbar, die nicht nur Anleihen bei Aristoteles, Jean Gerson oder Thomas von Aquin machen, sondern ebenso Ideen verarbeiten, die im Decretum Gratiani oder beim Kanonisten Heinrich von Susa entfaltet wurden.11

      1. Einzelfallkorrektur

      Dass das Recht im menschlichen Miteinander nicht das letzte Wort haben sollte, wird in den Passagen deutlich, in denen Luther das strenge Recht als Quelle von Ungerechtigkeit avisiert. Dass rechtliche Strenge unrecht sein könne, ist für ihn Alltagswissen:

      „Denn so sagen auch die heiden, das ist, die tegliche erfarunge: Summum Jus, Strenge recht, ist das groessest unrecht, gleich wie widderumb mag gesagt werden von der gnade: Eitel gnade ist die groessest ungnade.“12

      Durch das summum ius stützt Luther dieses Alltagswissen historisch ab. Die von Cicero als leicht abgenutzt qualifizierte Redewendung „Summum ius summa iniuria“13 zitiert er als allen Menschen eingängige Erkenntnis über die Grenzen des Rechts, das Miteinander gerecht zu gestalten. Im Spiegel des summum ius erscheint die Epikie als Sensus dafür, dass man Recht bisweilen Recht sein lassen müsse, um ein wichtigeres Ziel zu erreichen.

      An anderer Stelle bezieht Luther das summum ius auf die Aristotelische Epikielehre. Wie schon Aristoteles bemerkte, sei das strengste Recht das größte Unrecht:

      „Wie Aristot. Eth. 5. von der Epijkia leret […] so ists das aller grossest unrecht nach dem spruch des klugsten Romers Scipionis, Summum ius summa iniuria Enge recht weit unrecht“14.

      Durch diesen Verweis zeigt Luther an, dass mit Billigkeit mehr gemeint ist als gutmütige Nachgiebigkeit gegenüber den eigenen Schuldnern. Denn für Aristoteles ist Billigkeit zwar eine Tugend, nicht aber die Gutmütigkeit der Berechtigten, auf ihr Recht zu verzichten, sondern die Tugend der Rechtsverpflichteten, die Grenzen des Rechts zu erkennen und entsprechend zu handeln. Die Billigkeit ist die naturrechtliche Korrektur des Gesetzes. Korrekturbedürftig sei das Gesetzesrecht aus dem Grund, erläutert Aristoteles,

      „daß jedes Gesetz allgemein ist, in einigen Dingen aber in allgemeiner Weise nicht korrekt gesprochen werden kann. Wo man allgemein reden muß, dies aber nicht angemessen tun kann, da berücksichtigt das Gesetz die Mehrzahl der Fälle, ohne über diesen Mangel im unklaren zu sein“15.

      Diese