ernst, was Bischof Dr. Overbeck in seinem Hirtenwort mit den drei genannten Dimensionen umreißt.
Um Ideen und um Erfahrungen von Inkulturation hier in Deutschland geht es in diesem Buch. Möge es dazu beitragen, Mut zu machen, als Kirche Gottes mitten in der Welt und für die Welt Schritte in die Zukunft zu gehen.
Weihbischof Ludger Schepers, Essen
14. Februar 2011
Einleitung
Jenseits kirchlicher Innen- und Binnenräume
Die Neuentdeckung der Nachbarschaft in Kleinen Christlichen Gemeinschaften
Seit dem ersten und beeindruckenden Symposion im November 2008 wächst das Interesse an Kleinen Christlichen Gemeinschaften stetig. Die Attraktivität von Kleinen Christlichen Gemeinschaften ist vor allem deswegen größer geworden, weil jenseits der Strukturmaßnahmen der Kirche, die ja im Wesentlichen dem Erhalt pastoraler Handlungsfähigkeit dienen sollten, immer mehr die Sehnsucht nach einer neuen geistlichen Kirchenerfahrung wächst. Sie wächst auf allen Ebenen der Kirche, vor allem aber im Volk Gottes. Aber wie soll das gehen?
Inspirationen – das Vorwort von Weihbischof Schepers zeigt es – fanden im Jahr 2009 die deutschen Bischöfe auf ihrer Reise nach Korea, wo in einem hochtechnisierten Land die Kirche auch und gerade deswegen wächst, weil hier der Ansatz Kleiner Christlicher Gemeinschaften zu einer vorrangigen pastoralen Handlungsoption geworden ist. Die Verheißung einer neuen Kirchengestalt im Nahraum der Menschen ist dabei nicht Strukturprogramm, sondern ein spiritueller Ansatz der Kirchwerdung. Was in Korea Begeisterung auch bei unseren Bischöfen ausgelöst hat, kann dies auch in Europa fruchtbar sein? Wer in das französische Bistum Poitiers schaut, konnte erste Antworten finden.1 Aber in Deutschland?
Ein ernstes Fragengebirge
Grundanfragen an den Pastoralansatz Kleiner Christlicher Gemeinschaften gibt es weiterhin – und viele. Und sie sind ja auch vielfach berechtigt: Warum eigentlich gelingt es existierenden bibelteilenden Gruppen in Deutschland nicht, konkret als Gemeinschaft den Menschen in ihrem Umfeld zu dienen? Geht also in Deutschland nur das, was man als „spirituelle Selbsthilfegruppe“ (J. Wanke) bezeichnet? Ist der „6. Schritt“ des Bibelteilens angesichts einer Gesellschaft, die sich karitativ und diakonisch durchorganisiert hat, überhaupt notwendig? Kann angesichts postmoderner Rastlosigkeit bestenfalls eine spirituelle Wahlgemeinschaft kirchliche Heimat werden, die als Tankstelle Ruhe und geistliche Nahrung verheißt? Zeigt sich also die Idee Kleiner Christlicher Gemeinschaften als seltsam verkleideter Aufruf zur kleinen spirituellen Herde?
Was kann aus weltkirchlichen Erfahrungen inspirierend und gestaltend wirken, wenn das gesellschaftliche Gefüge in unserer postmodernen Welt durch einen sehr dezidierten Individualismus gezeichnet ist – während auf allen anderen Kontinenten milieuhafte und konfessionelle Familiengefüge weithin die Norm sind? Und andererseits weisen scheinbar doch alle soziologischen Daten darauf hin, dass postmoderne Zeitgenossen sich eher szeneartig unverbindlich, immer aber selbstbestimmt, wenn überhaupt, in Gemeinschaften einbinden. Könnte also die Rede von Kleinen Christlichen Gemeinschaften nicht wiederum der Versuch sein, einer hoffnungslos überlebten traditionsverfangenen Communiotheologie Recht zu verschaffen? Dann aber wäre – und das lässt sich auch jederzeit belegen – die Milieubegrenzung vorprogrammiert: Kleine Christliche Gemeinschaften wären dann therapeutische Gruppen für agile Minderheiten.
Nachbarschaft scheint bei uns ein „No-Go“ zu sein: wer immer von einer Kirche in der Nachbarschaft redet, beschreibt eine Unmöglichkeit angesichts der Vervielfältigung der Lebensräume und der mobilen Begegnungsmöglichkeiten postmoderner Weltsurfer. Sind also Kleine Christliche Gemeinschaften ein weltkirchlicher Transfer aus ruralen Welten?
Die Bedenken reichen tiefer und münden ein in die Frage nach der zugrundegelegten Ekklesiologie. Ganz gewiss ist es kein Zufall, wenn diesseits der deutschen Kirchenwirklichkeit die Kirchenerfahrung sich entweder auflöst in lockere Mitgliedschaften, weil Gemeinschaftserfahrungen gar nicht so bedeutsam zu sein scheinen, oder sich in dichten, allzu dichten, Kleingemeinschaften ausfaltet. Immer aber zeigt sich, dass der weltkirchlich hier bevorzugte Zugang zu einer Ekklesiologie des Leibes Christi in Deutschland kaum Widerhall findet oder doch sehr skeptisch beäugt wird, bedroht er doch scheinbar die errungene individuelle Freiheit: Wozu braucht es kirchliche Gemeinschaft jenseits der Gottesdienste?
Das ist ein Fragengebirge. Und es macht eines deutlich: auch wenn die Überlegungen und ersten Praxisversuche klein und bescheiden daherkommen und oft auch Erfahrungen des Scheiterns sind, wecken sie die geballte Kraft ekklesiopraktischer und ekklesiologischer Bedenken – selbst dann, wenn kaum jemand der gewachsenen Pfarreigestalt Zukunft geben mag, allein schon deswegen, weil ihr der Nachwuchs abhanden gekommen ist oder absehbar abhanden kommen wird. Damit wird aber auch deutlich, dass hinter dem Ansatz basiskirchlicher Gemeindegestalt ein theologischer Paradigmenwechsel steht, der herausfordert.
Und um die theologische Diskussion dieser Herausforderungen geht es weiterhin. Schritt für Schritt soll entwickelt und entdeckt werden, ob und wie die stimulierende und inspirierende Perspektive der Kleinen Christlichen Gemeinschaften einen inkulturierten Weg kirchlichen Neuaufbruchs darstellen kann. Dazu diente auch das Symposion vom Juni 2010 in Hildesheim, das hier dokumentiert werden soll.
Chancen für eine Ekklesiologie der Nachbarschaft?
Eine der brisanten Ausgangsfragen war schon benannt worden: Warum ist es bislang selten gelungen, dass Kleine Christliche Gemeinschaften ihre Sendung im sechsten Schritt als Dienst an den Menschen in ihrem Lebensraum leben? Und warum gelingt es eher selten, dass sich Kleine Christliche Gemeinschaften als Kirche in der Nachbarschaft konstituieren? Muss man angesichts der soziologischen Daten in einer postmodernen Gesellschaft darauf verzichten?
Eine erste Spur ergab sich im März 2009 – von einer ganz anderen Seite. Bei einem diözesanen Studientag diakonischer Pastoral wurde deutlich, dass diakonische Initiativen im Stadtteil und im konkreten Lebensraum zunehmend an Bedeutung gewinnen. Die bei diesem Tag berichteten Erfahrungen, die auf ein bundesdeutsches pastoraltheologisches Forschungsprojekt von Prof. U. F. Schmälzle zurückgehen2, machten vor allem deutlich, dass konkretes Engagement sich zunehmend nachbarschaftlich organisiert und einen neuen Horizont einer Kirchlichkeit im Lebensraum eröffnet.
Deutlich wurde aber auch: nicht wenige dieser Initiativen hatten Mühe, in den entsprechenden Kirchengemeinden Anerkennung zu finden. Ist Diakonie im Lebensraum überhaupt wesentlich Sache der Gemeinde? Ist es nicht vielmehr so, dass die Kirche existiert und lebt in ihren eigenen Räumen, zu denen man geht – und also gewissermaßen ein Verein ist? Viele Protagonisten brauchten Energie, um ihre Initiative als Erfahrung des Kircheseins für die eigenen Brüder und Schwestern deutlich zu machen.
Der Studientag war für unsere Überlegungen ein Startzeichen: Kleine Christliche Gemeinschaften sind falsch verstanden als gemeindliche Gruppen, die neben biblischer Spiritualität dann vielleicht auch mal sozial aktiv werden könnten. Sind sie nicht vielmehr Wirklichkeiten des Kircheseins mitten im sozialen Lebensraum? Dieser Spur war nachzugehen. Sie weitet pastorale Entwicklungsperspektiven und ermöglicht eine Weitung des Blicks: Zukünftige Kirchenentwicklung orientiert sich am Lebensraum und dient den Menschen, die dort sind.
Wichtig war auch eine Begegnung mit Mitarbeiterinnen des Caritas-Forums Demenz in Hannover. Denn angesichts der auf unsere Gesellschaft zukommenden Herausforderungen zunehmender Alterung und Demenz stellt sich für die Akteure ganz neu die Frage nach nachbarschaftlicher Solidarität. Wie könnten denn die großen Herausforderungen von Alter und Demenz anders getragen werden? Die Selbstverständlichkeit, mit der Klaus Dörner diese Perspektive vorträgt, kann nur überraschen.3 Gibt es denn Nachbarschaft angesichts postmoderner Mobilitätsanalysen überhaupt noch?
Es wurde schnell deutlich, dass Klaus Dörner gewissermaßen eine provokative Gegenthese