löste sich immer mehr auf in kategoriale und sehr differenzierte Seelsorge professioneller Mitarbeiterinnen einerseits und in sich geschlossenen kirchlichen Gemeindemilieus andererseits. So wurde Kirchenerfahrung entweder institutionalisiert oder in geschlossene Eigenmilieus geführt. Sie ging verloren im unmittelbaren Lebensumfeld, gerade auch, weil das konfessionelle und familiäre Gefüge sich auflöste.
Die Provokation Dörners aber liegt genau hier: er beobachtet seit den 80er Jahren eine neue Nachbarschaftsbewegung und fragt: Läge hier nicht eine (zumeist verpasste) Chance für die Kirchengemeinden, sind diese doch eigentlich lebensräumlich organisiert?
Auf dem Weg zu einer vertieften Konzilsrezeption
„Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen, besonders der Armen und Bedrängten jeglicher Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi“ (Gaudium et spes 1). Diese Grundaussage der Pastoralkonstitution verdichtet und orientiert die Ekklesiologie des II. Vatikanums entscheidend. Doch wie genau sich Kirche deswegen konfigurieren wird, das ließ das Konzil offen. Die lateinamerikanischen Entwürfe einer Ekklesiogenesis in kirchlichen Basisgemeinden, wie sie seit den 60er Jahren in Lateinamerika kirchlich entwickelt und unlängst in Aparecida neu beschrieben wurden, sind um die Welt gegangen: Die afrikanischen Small Christian Communities und die asiatischen Entwicklungen führen uns Europäern vor Augen, dass die theologische, spirituelle und praktische Rezeption einer lebensraumsensiblen Kirche weit vorangeschritten ist.
Erfahrungen bei der fünften Vollversammlung des ASIPA-Programms (Asian Integral Pastoral Approach) in Davao / Philippinen im Herbst 2009 machten deutlich, dass hinter der Frage nach Kleinen Christlichen Gemeinschaften ein gesamtpastoraler Ansatz steht, der in der Tat einer praktischen und spirituellen Rezeption des II. Vatikanums Rechnung trägt.
Hatte beim ersten Symposion Hermann Josef Pottmeier4 auf die neue Rezeptionsphase konziliarer Ekklesiologie verwiesen, die sich ekklesiopraktisch in Kleinen Christlichen Gemeinschaften weltweit ereignet, und hatten damals indische und philippinische Theologen die Tragweite dieses Ansatzes deutlich machen können, ging es in diesem zweiten Symposion wiederum darum, eben jene kenotische Wende des Kirchenverständnisses in das Außen der Welt theologisch zu reflektieren. Was in der neueren Ekklesiologie zur Rede von der Kirche als Pastoralgemeinschaft (H. J. Sander) führte, sollte im Blick auf die Chancen der Ekklesiologie Kleiner Christlicher Gemeinschaften geschärft und diskutiert werden – und zwar sowohl theologisch wie praktisch. Lassen sich denn im Ansatz der Kleinen Christlichen Gemeinschaften eine lebensräumlich orientierte Ekklesiologie und Ekklesiopraxis entdecken, und ermöglichen umgekehrt sozialraumorientierte Initiativen der Caritasarbeit Ekklesiogenesis und lassen eine erstaunliche Vielfalt kirchlicher Lebensorte wirklich werden?
Erkenntnis und Erfahrungen gehen zusammen. Theologische Vermutungen erhärten sich dort, wo die Ekklesiopraxis zum Denken treibt. Deswegen, auch gerade angesichts der Anfänglichkeit der eigenen Versuche, konnte der weltkirchliche Akzent auch bei diesem Symposion nicht fehlen: Zu stark hatten wir erlebt, wie intuitiv, spirituell und theologisch begründet gerade in Asien dieser Weg beschritten wird. Ein solcher Einblick in die Praxis einer an Gaudium et spes maßnehmenden Ekklesiologie und Ekklesiopraxis macht aber auch mehr als deutlich, dass hinter der Frage nach einer konkreten Kirchengestalt im Sozialraum ein Grundgefüge pastoraler Entwicklung steht: Eine lokale und lebensräumliche Kirchenentwicklung setzt voraus, dass Menschen in ihren Hoffnungen, Träumen und Situationen an der visionären Kirchenentwicklung beteiligt werden.
Damit aber wird noch einmal deutlich: Kleine Christliche Gemeinschaften sind keineswegs ein episodischer Notanker einer sich neu konfigurierenden Kirche. Hier steckt mehr drin. Es geht um einen Prozess lokaler Kirchenentwicklung, der nicht zuerst auf die Bildung Kleiner Gruppen zielt, sondern sich viel tiefer als geistlicher Prozess versteht, bei dem im Hören auf die Schrift, auf die Lebenswelt, auf die Kirche und auf die Menschen Kirche neu wächst – und über sich in die Welt hinauswächst.5
Weltkirchlich lernen
Das Konzil liegt fast 50 Jahre zurück. Und der Kairós einer vertieften Konzilsrezeption steht vor der Tür: Wenn weltweit in einem beschleunigten Prozess der Pastoralansatz der Kleinen Christlichen Gemeinschaften an Kraft gewinnt, dann stellt sich für die deutsche Umbruchssituation der Kirche nicht so sehr die Frage, ob wir eine gute Perspektive konziliarer Ekklesiologie einfach übertragen können, sondern es geht um etwas anderes. Es geht darum, mit Hilfe der weltkirchlichen Erfahrungen die eigene Wahrnehmung zu schärfen und Wege für eine neue Inkulturation der Kirche in unserem Kulturkreis zu bereiten.
Denn darum geht es beim weltkirchlichen Lernen, das unserer katholischen Kirche so eigen ist. Nicht umsonst sind wir „katholisch“. Es geht nicht um einen billigen Import pastoraler Blüten, es geht nicht um eine Schnittblumenpastoral, die Entwurzeltes einfach übertragen will, sondern um eine Neuverwurzelung der Vision des Reiches Gottes in unseren Breitengraden.
Dabei haben gerade weltkirchliche Erfahrungen eine besondere hermeneutische Funktion: Sie schenken begeisternde Bilder, sie ermöglichen Visionen. Wo immer pastorale Akteure im Bistum Hildesheim im vergangenen Jahr unterwegs waren, ob in Linz, Poitiers, Südafrika oder London6, überall bricht sich die Erfahrung Bahn, dass solche Bilder die pastorale Wahrnehmung und das pastorale Agieren umformatieren. Auf diesem Hintergrund erscheint eine Kultur des Kircheseins, die Maß nimmt am II. Vatikanischen Konzil und seiner pastoralgemeinschaftlichen Perspektive sowie an der deutlichen Perspektive einer Kirchengestalt, die sich aus der Taufweihe entwickelt: Kirche in der Nachbarschaft, die eben nicht die sakramentale Struktur des Kircheseins in Frage stellt, sondern diese erst ins rechte Licht rückt.
Die Rückkehr der Verantwortung
Das Symposion entfaltete sich in dieser nun beschriebenen Logik. Es ging zunächst einmal darum, die lebensräumlichen und nachbarschaftlichen Ansätze, angefangen von den kreativen und überraschenden Einsichten Klaus Dörners über die theologische Perspektive der Caritas und den Impulsen des Community Organizing, ekklesiologisch fruchtbar zu machen. Neben Klaus Dörner konnten mit Leo Penta und Hans-Jürgen Marcus profilierte Denker diesen Raum eröffnen, der dann theologisch reflektiert werden konnte. Rainer Bucher wie auch Egbert Ballhorn ermöglichten diesen tiefen Gang in die Theologie glänzend: Dass sich Kirche in ihrem Außen findet, dass sie konziliar auf eine lebensräumliche Perspektive angelegt ist, das wird nun zum Maßstab auch der Kleinen Christlichen Gemeinschaften. Das Risiko besteht nämlich immer wieder, dass Kirche zurückkehrt in den sicheren Hafen geschlossener Räume – auch bei Kleinen Christlichen Gemeinschaften. Aber umgekehrt können Kleine Christliche Gemeinschaften auf eine auch in der deutschen Pastoraltheologie noch wenig beantwortete Frage antworten: was nämlich nach dem Ende traditioneller Kirchengestalt vorwärtsweisend auf uns zukommen könnte.
Die theologischen Überlegungen fanden ihren Widerhall in der Praxis: beeindruckende kleine Exposures in Sozialraumprojekten in Hildesheim ermöglichten es, zu „Bildern“ zu kommen: wie nämlich Kirche sich gestalten würde, würde die Lebensräumlichkeit ernst genommen.
Genau darum ging es in den abschließenden Schritten: Estela Padilla und Mark Lesage gaben uns Anteil an ihrer pastoralpraktischen wie pastoraltheologischen Reflexion: Was sich zum einen in vierzig Jahren auf den Philippinen zeigt, ist eine Inkulturation des Kircheseins in kirchlichen Basisgemeinschaften, die überraschend tief eingewurzelt werden kann in die Kulturanthropologie des einzigen Landes Asiens, in dem die Katholiken seit Jahrhunderten die Volkskultur prägen. Gleichzeitig machten Padilla und Lesage auch deutlich, dass ein Prozess lokaler Kirchenentwicklung eine partizipative Kultur des Kircheseins voraussetzt und freisetzt: Kleine Christliche Gemeinschaften als Option zukünftiger Pastoral sind nur dann zukunftsträchtig, wenn das ganze Volk Gottes auch hier in Deutschland, am jeweiligen Ort, in einen geistlich-visionären Prozess mit einbezogen wird.
Wie sehr wir damit am Anfang stehen, das machte Bernhard Spielberg deutlich: Es reicht nicht, pastorale Südfrüchte zu importieren – es geht darum, hier mit Geduld und Wohlwollen das Experiment zu wagen und geistliche