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Die Rückkehr der Verantwortung


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immer mehr mehren sich die Zeichen, dass tatsächlich eine Weise des Kircheseins in unsere postmoderne Welt findet, die sich natürlich unterscheidet von ihren weltkirchlichen Geschwistern: dass es um eine Kirchwerdung vor Ort geht, dass es um einen geistlichen und visionären Prozess geht, der möglichst viele Menschen mithören, mitdenken und teilhaben lässt, dass es um eine Kirche geht, die ihr Umfeld ernst nimmt, von ihm lernt und ihm dient, und dass Kirchesein dann aus einer Gemeinschaft lebt, die sich aus der Gegenwart Christi nährt. Wo diese Faktoren ernst genommen werden, werden die entstehenden gemeindlichen Gestalten in Europa und in Deutschland in der Tat der Kirche ganz eigene Gesichtszüge einprägen.

      1 Vgl. H. Müller / R. Feiter (Hg.), Was wird jetzt aus uns, Herr Bischof, Ostfildern 2009.

      2 Vgl. U. F. Schmälzle (Hg.), Menschen, die sich halten – Netze, die sie tragen. Analysen zu Projekten der Caritas im lokalen Lebensraum, Münster 22009.

      3 Vor allem K. Dörner, Leben und Sterben wo ich hingehöre.

      4 Vgl. H. J. Pottmeier, Die konziliare Vision einer neuen Kirchengestalt, in: C. Hennecke (Hg.), Kleine Christliche Gemeinschaften verstehen, Würzburg 2009, 31–46.

      5 Vgl. C. Hennecke, Hören, in Prisma.

      6 Vgl. M. Lätzel / C. Hennecke, Kein Mangel – nirgends, demnächst in Geist und Leben; C. Hennecke, Mind the gap, in Pastoralblatt.

Teil I:

       Klaus Dörner

       Kirche im Sozialraum?

       Überlegungen zur Bedeutung und Chance sozialraumorientierter Gemeinschaft

      „Die Rückkehr der Verantwortung“ – dieser Titel unserer Gesamtveranstaltung ist groß, bedeutungsschwer, ja, pathetisch. Für meine Disziplin, die Medizin, macht mich dieser Titel geradezu neidisch. Denn hier registrieren wir eher das Gegenteil, den Rückzug der Verantwortung aus der Medizin, keineswegs nur in Deutschland, sondern eher als international beklagte Bewegung, die sich heute schon in der Forschungsrichtung der „medical deresponsibilization“ materialisiert hat. Ich kenne keinen Mediziner, der sich jetzt schon trauen würde, eine Veranstaltung mit diesem Titel zu überschreiben.

      Es könnte also durchaus sein, dass die Kirche hier schon weiter ist als die Medizin. Natürlich ist das kein Zufall. Auch der Heilige Geist weht ja nur bei Gelegenheit, also anlassbezogen. Unser Titel nimmt also Bezug auf die Strukturkrise der Kirche, also auf die Massenaustritte, den Priestermangel, die Schließung oder Fusion von Kirchengemeinden, den Rückzug auf die Pastoral mit mehreren Pfarreien, sodass die einzelnen Christen „ihre“ Kirchengemeinde verlieren.

      Es wäre aber ziemlich trostlos, wenn diese unvermeidliche, äußere Antwort der Kirchenverwaltungen die einzige Problemlösung sei; denn diese würde eine Art Todesspirale der Kirchengemeinden einläuten.

      Nun gibt es aber seit einiger Zeit eine Gegenbewegung von unten, eine Rückbesinnung auf Kernbereiche dessen, was wir Kirchengemeinde zu nennen gewohnt sind. Darum soll es heute gehen, um das, wofür es auch schon ein Kürzel gibt, KCG, also um die „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“, im evangelischen Raum u. a. als „Hauskreise“ geläufig. Was das ist, kann man bei einer so jungen Bewegung noch nicht genau sagen, sie ist zum Glück noch nicht standardisiert. Für mein Verständnis am hilfreichsten ist die Beschreibung von Christian Hennecke, wonach Kirche-Sein einmal aus den Menschen besteht, die an einem Ort, in einer Nachbarschaft von Gott gerufen sind, weshalb der von dem Rabbi-Lehrer Levinas inspirierte Philosoph Bernhard Waldenfels den Menschen als das antwortende Wesen bestimmt. Zum anderen lebt diese kirchliche Gemeinschaft aus dem Wort Gottes, also der Gegenwart Gottes. Zum Dritten weiß Kirche sich immer gesamt an dem Ort, wo sie ist, was zugleich ihr soziales Handeln ausmacht. Zum Vierten weiß die Kleine Christliche Gemeinschaft sich immer mit der ganzen Kirche verbunden. Was fünftens die so miteinander verbundenen Menschen tun, ist immer nach vorne offen, ohne wissen zu können, wohin es uns führt, auch dies zugleich ein zentrales anthropologisches Merkmal. Und sechstens geschieht dies immer in dem Bewusstsein, vor Gott und mit Gott auf einem Weg ins Unbekannte zu sein. So sind wir stets von Gott für den Anderen herausgefordert. Nun vollzieht sich diese Rückkehr der Verantwortung, diese zunehmende Bereitschaft und Richtungsumkehr, weniger von uns aus aktiv zu handeln, sondern wieder auf den Anruf Gottes zu antworten, keinesfalls zufällig zur selben Zeit, in der die Bürger in der Breite zum ersten Mal seit 150 Jahren beginnen, sich nicht mehr nur um ihre gesund-egoistischen Eigeninteressen zu kümmern, sondern auch – durchaus nachbarschaftlich – wieder mehr auf den Anruf fremder Anderer zu antworten, sich wieder mehr von der Not anderer Menschen herausfordern zu lassen. Das sind nun freilich keine beliebigen Anderen. Der Hilfebedarf psychisch Kranker oder Behinderter z. B. hätte das nie bewirken können, schon weil es sich hier um kleine Minderheiten handelt. Vielmehr handelt es sich hier um den Hilfebedarf der Alterspflegebedürftigen und Dementen, die sich in den letzten Jahrzehnten so vermehrt haben, dass nahezu alle Familien und damit alle Bürger fast zu jeder Zeit sich von ihrem Anruf herausgefordert sehen, auf ihren Hilfebedarf zu antworten und damit Verantwortung zurückkehren zu lassen, ob sie wollen oder nicht, und dies um so mehr, als heute fast alle Altershilfebedürftigen sich nicht mehr in der früher gut akzeptierten Sonderwelt der Pflegeheime entsorgen lassen, sondern in den eigenen vier Wänden integriert sein wollen. Daher habe ich meinem Reisebericht über meine zwölfjährige diesbezügliche Feldforschung den Titel gegeben: „Leben und sterben, wo ich hingehöre“ (Neumünster: Paranus 2007).

      Denn während wir uns im 19. Jh. dank unserer Fortschrittsgläubigkeit noch die Illusion einer künftigen leidensfreien Gesellschaft versprochen haben, gehen wir heute realistisch davon aus, dass wir aufgrund der in der Größe völlig neuartigen Bevölkerungsgruppen der Alterspflegebedürftigen und Dementen, aber auch der körperlich chronisch Kranken, in eine Gesellschaft hineinwachsen mit dem größten Hilfebedarf der Menschheitsgeschichte – so groß, dass wir allein mit den Errungenschaften der Industriegesellschaft, also mit der Professionalisierung des Helfens und der fabrik-analogen Institutionalisierung der Hilfsbedürftigen, diesen Hilfebedarf nie und nimmer bewältigen könnten.

      Gleichwohl darf man es durchaus ein Wunder nennen, dass die Bürger in der Breite zeitgleich mit der Einsicht in die Notwendigkeit auch schon mit der erwähnten Richtungsumkehr begonnen haben und anfangen, sich in den Dienst fremder Anderer zu stellen – ganz konträr zum gesunden Menschenverstand. Denn alle Messinstrumente beweisen ziemlich genau, dass wir seit 1980 zu so etwas wie einer neuen Bürgerhilfebewegung oder Nachbarschaftsbewegung aufgebrochen sind. Dafür nur ein paar Beispiele: Seit 1980 Zunahme der Freiwilligen ganz allgemein und der Nachbarschaftsvereine, Hospizbewegung, Systematisierung der Selbsthilfegruppenbewegung, Wiederbelebung der Bürgerstiftungen, die Bewegung des generationsübergreifenden Siedelns mit bisher 2000 Projekten, die Bewegung der Gastfamilien und etwa 1000 ambulante Wohnpflegegruppen zur Integration der Alterspflegebedürftigen, wenn schon nicht mehr in ihrer Wohnung, so doch sozialräumlich in ihr vertrautes Stadtviertel oder in ihre Dorfgemeinschaft oder auch in ihre Nachbarschaft. Ohne allzu große Übertreibung kann man sagen, dass es heute schon in fast jeder Dorfgemeinschaft und in fast jedem Stadtviertel eine Bürgerinitiative gibt, die sich dem hilfsbedürftigen Nachbarn verpflichtet weiß.

      Sie antwortet somit auf den Anruf von Anderen, arbeitet also an der Rückkehr der Verantwortung in die Nachbarschaft und stellt damit die gesund-egoistischen Eigeninteressen in einem Maße zurück, wie das noch vor 40 Jahren undenkbar gewesen wäre; man wäre dafür ausgelacht worden.

      Was das bedeutet, lässt sich am besten mit dem Rabbi-Lehrer Emmanuel Levinas ausdrücken, wonach die europäische