sich das langfristige Versprechen der leidensfreien Gesellschaft ergab, allerdings nur dann, wenn die diakonischen Profis – nach dem Motto: stationär vor ambulant – Integration nicht etwa förderten, sondern geradezu zu verhindern bereit waren. Das langfristige Versprechen eines Paradieses auf Erden war so verführerisch und plausibel, dass auch jeder von uns es damals geglaubt und sich entsprechend ausgrenzend verhalten hätte. Auf der anderen Seite war die Aussicht auf die Entlastung vom Helfen für die Familien und die Nachbarschaften und die Hoffnung der Kirchengemeinden auf einen störungsfreien Gottesdienst nur noch für die Leistungshochwertigen und Wohlangepassten ebenfalls so verführerisch, dass die Verantwortlichen sich dies vielleicht zwei Mal, aber nicht drei Mal sagen ließen. Wir alle haben diese befreiende Entlastung gern genossen.
Natürlich hätte diese Politik der Kirchen spätestens im Ersten Weltkrieg als sündhaft und gottlos erkannt werden können, als nämlich die in den Institutionen ausgegrenzten Menschen in den Augen der Anderen so an Wert verloren hatten, dass alle Krieg führenden Nationen durch Nahrungsreduktion eine Übersterblichkeit dieser nutzlosen Esser beabsichtigten – ohne jeden Protest von Seiten der Kirchen oder auch der professionell Verantwortlichen. In Deutschland waren es 70 000 Opfer dieser ersten staatlich verordneten Mordaktion. Die Nazi-Psychiater konnten also mit ähnlichen Mordaktionen auf ein schon kulturell bewährtes Muster zurückgreifen. Und selbst wir Sozialpsychiater waren nicht sonderlich erschrocken, als das Ergebnis der euphorisch von uns gefeierten Psychiatriereform der 70er Jahre feststand, dass nämlich in dieser Reformzeit die Zahl der ausgrenzenden Heimplätze sich nicht verringert, sondern ständig vermehrt hat, obwohl zeitgleich die Schweden und Norweger bewiesen haben, dass Integration in die Nachbarschaften der Stadtviertel und Dorfgemeinschaften auch ohne Behindertenheime möglich ist. Offensichtlich hat es erst die Altenexplosion bewirkt, dass wir Bürger in der Breite uns bewusst machen konnten, dass nicht nur kleine Minderheiten, sondern jeder von uns alterspflegebedürftig oder dement werden kann, um den Richtungswechsel der Verantwortungsrückkehr einzuläuten.
Das antibiblische Auseinanderreißen der Einheit von Gottes- und Menschendienst dürfte aber zunächst den Bedeutungsniedergang der Kirchengemeinde – im Unterschied zur wachsenden Wertschätzung von Diakonie und Caritas – mitbewirkt haben, bis hin zu den Massenaustritten der letzten Jahrzehnte. Ebenso bitter wie plastisch hat der selbst behinderte Behindertenpastor Ulrich Bach („Ohne die Schwächsten ist die Kirche nicht ganz. Bausteine einer Theologie nach Hadamar“, Neukirchen 2006) den beklagenswerten Zustand der Kirchengemeinden mit ihrer Abtrennung des Menschendienstes vom Gottesdienst „Apartheidsgemeinde“ genannt. Und dennoch ist es nicht zu leugnen, dass die Chancen für einen Bedeutungszuwachs der Kirchengemeinden wieder zunehmen. Das hat sowohl mit der Wiederbelebung und dem Bedeutungszuwachs des dritten Sozialraums zu tun als auch mit dem Wandel aus der Industrie- in die Dienstleistungsgesellschaft, schon weil eines ihrer Geschäftsprinzipien lautet: „Die Menschen nicht mehr zur Hilfe, sondern die Hilfe zu den Menschen bringen“. Die Chancen für die Kirchengemeinde sind aber nur unter der Bedingung gut, dass sie sich bereitfindet, sich zu resozialisieren und auch zu rebiblifizieren. Es bedarf also der Wiederherstellung der unauflöslichen Einheit von Gottes- und Menschendienst. Da aber, wie wir schon gesehen haben, Hilfe heute nicht mehr wie früher großflächig-strategisch zu organisieren ist, was der Weg von Diakonie und Caritas war, sondern nur noch kleinflächig-sozialräumlich, hat die Kirchengemeinde jetzt gewissermaßen einen Wettbewerbsvorsprung gegenüber Diakonie bzw. Caritas. Es bedarf also der Wiedervereinigung von diakonischer Professionalität und kirchengemeindlichem Bürgerengagement – und zwar auf dem kleinflächigen Territorium der Kirchengemeinde, schon weil nur so der alternativlose Bürger-Profi-Mix realisiert werden kann.
Hier richten sich unsere Hoffnungen zu Recht natürlich vor allem auf die „Kleinen Christlichen Gemeinschaften“, egal, ob sie sich formell so organisiert haben oder ob es sich faktisch im Handeln ergibt. Und in der Tat finde ich bei meiner Feldforschung – allerdings erst seit ein paar Jahren – immer mehr Beispiele dafür, dass am Anderen engagierte Initiativen vor allem von kleinen Gemeinschaften im Rahmen von Kirchengemeinden ausgehen – sowohl in Dörfern als auch in Stadtvierteln. Als ob die Leute in der Bibel das zauberhafte Versprechen Jesu beherzigt hätten, dass er mitten unter uns sei, wenn zwei oder drei von uns versammelt sind, was ja im Umkehrschluss nur bedeuten kann, dass ein Alleingang ebenso ungünstig ist wie ein Sendungsbewusstsein, wenn zu viele von uns beteiligt sind. So gibt es immer mehr kirchengemeindliche Initiativen, wo zunächst mal nur der Gemeindesaal, falls noch vorhanden, als regelmäßiger Treffpunkt für alle kommunal-sozialräumlichen Initiatoren zur Verfügung gestellt wird.
Zum anderen kann auch eine Kirche zugleich Bürgerhaus sein, wie etwa die Heiligkreuzkirche in Berlin-Kreuzberg.
Zum Dritten entwickeln sich zunehmend kirchliche Besuchsdienste in Nachbarschaftsvereinen weiter (z.B. Schwandorf oder Delmenhorst).
Viertens kann man auch einen Mittagstisch einrichten, gezielt für die, die zu jung oder zu alt zum Arbeiten sind, ein wirksames Mittel, um Generations-Integration zu fördern (z.B. Mindelheim bei Memmingen).
Und schließlich fünftens und vor allem ergeben sich immer mehr ambulante Wohnpflegegruppen, die ja besonders versorgungsrelevant sind, aus kirchengemeindlichen Initiativen (z. B. Gelsenkirchen-Bulmke, Ettenheim, Bielefeld), sei es allein oder in Kooperation mit einem Wohnungsbauunternehmen oder mit einem Heim, das an der eigenen Zukunftsfähigkeit interessiert ist.
Das alles gelingt aber nur, wenn es nicht bloße Sozialtechnologie ist, sondern wenn ich mich vom Anderen angerufen sehe und auf diesen Anruf zu antworten bereit bin. Denken Sie nur an die vielen Dörfer in den grenznahen Regionen der deutschen Ostländer, die eins nach dem anderen dem Untergang geweiht sind. Wenn hier der Gedanke durchbricht, dass die „allzu vielen Alten“ nicht eine Last sind, sondern ein Geschenk, vielleicht die einzige Überlebenschance, ließen sich die meisten Dörfer – und ihre Kirchengemeinden – retten, selbst wenn in den meisten Dörfern die Resignation so fortgeschritten ist, dass ein solcher Gedanke nur noch von außen kommen kann. Dann – so ist meine Erfahrung – gewinnt der Gedanke bald Raum, dass natürlich die älteren Mitbewohner in der Vertrautheit ihrer Heimat leben und sterben wollen. Und erst wenn man soweit ist, fallen einem auch die ganz zweckrationalen Vorteile eines solchen Strebens ein, etwa so: Wenn ich in meinem Dorf ein Haus für die Zwecke einer ambulanten Wohnpflegegruppe umrüste (und eine Wohngruppe mit 6 bis 8 Plätzen deckt die Pflegevollversorgung für 2000 Einwohner ab), dann schaffe ich erst einmal attraktive Arbeitsplätze für etliche Fachpflegepersonen. Zum anderen schaffe ich noch mehr Arbeitsplätze für Arbeitslose, selbst ohne Ausbildung, die dort als „hauswirtschaftliche“ Präsenzkräfte ihren Verdienst finden. Zum Dritten tue ich etwas gegen den Leerstand im Dorf. Viertens erfülle ich damit den letzten und vornehmsten Wunsch meiner älteren Mitbürger. Fünftens leiste ich einen Beitrag zum Übergang in die Dienstleistungsgesellschaft. Und sechstens habe ich damit ein zukunftsfähiges Altenpflegesystem geschaffen, was heute durchaus als Standortvorteil für gewerbliche Investoren gilt.
Schließen möchte ich mit dem Vorschlag des Philosophen Jürgen Habermas aus seiner Friedenspreisrede, dass wir nämlich schon längst in der „postsäkularen Gesellschaft“ angekommen seien. Habermas, der sich stets mit Vorliebe als „religiös unmusikalisch“ bezeichnet, begründet das damit, dass die Säkularisierung (und damit die Industrialisierung) uns zwar viele kostbare Geschenke gebracht habe; aber sie habe ihr Kernversprechen nicht halten können, dass nämlich jeder Mensch, jedes Individuum, genug Lebenssinn allein aus sich selbst schöpfen könne. Dies habe sich als Irrtum herausgestellt; denn wir bedürfen hierfür nach wie vor auch des Anderen – des anderen Menschen oder des ganz Anderen, also Gottes, oder in der Regel einer Mischung aus beidem.
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