Thomas Lambert Schöberl

Grüne Seelen. Über die Weisheit der Natur


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täglichen Entscheidungen aus? Nützt mein Verhalten zum Beispiel meiner Gesundheit oder den Menschen in meinem Umfeld? Wie wirkt sich mein Konsumverhalten auf Natur, Tier- und Pflanzenwelt aus, oder unterstütze ich durch meinen Beruf oder meinen Lebenswandel menschliches Leid und die Ausbeutung von Arbeitskräften? Auf welchen Kosten, die andere tragen müssen, ist mein Leben aufgebaut? Lassen Sie zu, dass auch Ihre alltäglichen Entscheidungen zu echten Gewissensfragen werden, denn unser Gewissen ist ein unsichtbarer Draht zum Göttlichen, der Schlüssel zur Intuition, der Weg zur Ganzheitlichkeit, ein Pfad zu uns selbst und zu unserer Berufung. Wir können eben immer nur so gesund und glücklich sein wie unser Umfeld.

      Mein großes Interesse für Überlegungen dieser Art führte dazu, dass ich mich schon früh zum Heilpraktiker berufen fühlte. Ich verspürte einen tiefen Drang, die in mir sprudelnde Neugier gegenüber dem Leben und der Natur auch in anderen Menschen zu wecken. Anderen Menschen die Augen für die Schönheit und Komplexität der Natur zu öffnen, war mir schon immer ein großes Anliegen. Dass wir bei der Begegnung mit der Natur nur uns selbst begegnen, ist vielen von uns gar nicht bewusst. Es ist faszinierend, wie sehr sich Menschen verändern, wenn sie einen Urlaub am Meer, in den Bergen oder auch nur ein paar Stunden im Wald verbringen. Immer wieder beobachte ich, wie klar ihr Blick wird, sich ihre Haut, ihre Art zu sprechen und vor allem ihr Denken verändert und sich der Schleier des Alltags langsam wie ein Nebel auflöst. Raus aus dem Büro und rein ins Grüne!

      Mein Beruf erleichtert mir eine solche Lebenseinstellung, und aus meiner Perspektive erscheint die Frage, die man mir so oft stellt, warum ich nicht Arzt, sondern Heilpraktiker geworden bin, wie eine rhetorische Frage.

      Besonders schätze ich die Unabhängigkeit und Vielseitigkeit des Heilpraktikerberufs. Die Therapiefreiheit von Heilpraktikern sorgt dafür, dass unsere Praxen einige der wenigen Orte im Gesundheitswesen sind, die noch wirklich gelebte Individualität verkörpern. So ist es jedem einzelnen Heilpraktiker möglich, aufgrund seiner eigenen Lebenserfahrung und Philosophie sein ganz spezielles Angebot zu entwickeln. Das ist etwas sehr Wertvolles, denn ganzheitliche Heilung vollzieht sich immer im zwischenmenschlichen Kontakt.

      Der Beruf des Heilpraktikers hat sich über Jahrhunderte hinweg behauptet und in der Gesellschaft etabliert. Ungeachtet aller Trends und Zeitgeister ist der Heilpraktiker ein Brückenbauer zwischen Medizin, Naturkunde, Spiritualität und Seelsorge geblieben. Zahlreiche weitere Berufe und Bewegungen sind aus ihm hervorgegangen. Es bestehen enge Verbindungen zwischen der Entstehung der Reformhäuser, der biologischen Landwirtschaft, der reformpädagogischen Bewegungen oder der Etablierung von den heute so beliebten Fasten- und Naturheilkundezentren. Das Heilpraktikerwesen stellt also eine wichtige Opposition zum Massenbetrieb der konventionellen Gesundheits-, Ernährungs-, Umwelt- und Bildungspolitik dar. Es waren überwiegend Heilpraktiker, die in den 80er-Jahren die Kunst der Akupunktur, Meditation und Yoga in den Westen importierten. Anfangs verlacht, sind diese Verfahren heute Therapiemethoden, die selbst von Ärzten verordnet und von Krankenkassen anerkannt werden.

      Heilpraktiker waren ihrer Zeit oft weit voraus. Im Gegensatz zur akademischen Medizin speist sich das Heilwissen der Heilpraktiker aus der rein praktischen Erfahrung vieler Generationen. Daraus entwickelte sich später der Begriff der Erfahrungsheilkunde. Unbestritten: Der medizinische Fortschritt unserer Zeit ist ein großer Segen, und wissenschaftliche Standards sind in der flächendeckenden Behandlung von akuten Erkrankungen und medizinischen Notfällen ein großer Gewinn, doch fasst unser menschliches Leben auch eine nicht messbare, eine nicht objektivierbare Seite in sich. Es gibt Dinge, die nicht erlernt, sondern nur erfahren werden können.

      Genau hier beginnt die faszinierende Welt eines Heilpraktikers.

      Heilpraktiker wird man nicht aus falschen Motiven. Weder das Versprechen auf Reichtum noch Prestige, Macht oder Einfluss sind Motor unserer Berufswahl. Nein, es ist die Überzeugung, dass wir Menschen dazu in der Lage sind, eine gerechtere, grünere, liebevollere Welt im Einklang mit der Natur zu gestalten.

      Oft entspringt der Entschluss zu einer Heilpraktikerausbildung aus der Erfahrung mit einer eigenen Erkrankung oder ist das Ergebnis einer überstandenen Lebenskrise. Auch spirituelle Erfahrungen, das Erleben medizinischer Wunder oder der Wunsch nach einer sinnerfüllten beruflichen Veränderung führen zum Heilpraktikerberuf. Im Austausch mit unseren Patienten und im Kontakt mit der Natur bekommen Heilpraktiker unglaublich viel zurück – das ist ein nicht materieller Reichtum. Ein Reichtum, der die Seele nährt. Heilpraktiker sind die Lobby der Natur, deren Stimme in Zeiten des Klimawandels, der Umweltverschmutzung und der Zunahme von chronischen Erkrankungen nicht verstummen darf. In Zeiten eines kommerzialisierten, von Eliten beherrschten Gesundheitssystems, einer monopolisierten Ernährungswirtschaft und der Ausbeutung ganzer Gesellschaftsschichten stellt der Heilpraktikerberuf eine wundersame Waldlichtung dar, die, einmal entdeckt, eine Schatzkammer innovativer, längst vergessener Visionen, einer nachhaltigen und gesunden Zukunft offenbart.

      In meiner Praxis bin ich für viele Patienten die letzte Anlaufstelle nach einer langen Odyssee. Nach der Ernüchterung, dass auch Heilpraktiker keine übersinnlichen Alchemisten sind, folgt die Erkenntnis, dass der Weg der Heilung ein aktiver Weg der Umkehr ist. Umkehren bedeutet für mich den Weg der Erlösung wählen. Ein Sich-Lösen von materiellen Dingen, von Profilneurosen, Sexismus, Macht und Konsum. Dabei geht es nicht darum, diese Dinge zu verteufeln, sondern darum, ihnen nicht mehr ausgeliefert zu sein. Wir müssen uns fragen: Wo begegnen mir in meinem Leben Angebote, die ich annehmen sollte, und von welchen Dingen sollte ich dringend Abstand nehmen? Welche Erfahrungen dienen der Entwicklung meiner Seele? Ihre Antwort auf diese Fragen entscheidet, welchem Geist Sie in Ihrem Leben künftig folgen, welche Vorbilder und welche Lehrer Sie wählen – kurz: in welche Richtung Sie sich ganzheitlich, als Körper, Geist und Seele, entwickeln und welchem Ruf Sie folgen.

      Wenn ich als Heilpraktiker und Lehrer immer wieder feststellen muss, dass viele Menschen ihre Autos, Uhren oder Haustiere besser pflegen als ihren eigenen Körper, dann stimmt mich das nachdenklich.

      Wir missachten die Gesetze der Natur und sind dem Größenwahnsinn verfallen. Wir beuten unseren Planeten, die Tier- und Pflanzenwelt aufs Schändlichste aus und behandeln unsere Mitmenschen als moderne Sklaven, um den Wohlstand weniger Menschen zu sichern – ganz abgesehen davon, dass dieser umkämpfte Wohlstand eher einem Opium entspricht, das dafür sorgt, dass keiner das vorhandene System hinterfragt. Wir lechzen einem Wohlstand hinterher, der uns oft chronisch krank und übergewichtig macht, unsere Faulheit fördert und uns seelisch und geistig verarmen lässt. Diese Zustände sind das Endresultat aus dem Von-der-Natur-getrennt-Sein, einem Rückgang von Spiritualität, einer Verarmung von Sprache, Kunst und Kultur als Folge eines ungezähmten Kapitalismus. Wir wollen immer mehr und definieren unseren Wert als Menschen über Rang, Besitz oder die Anzahl von Bewunderern und Followern.

      Wir haben verlernt, unserer Intuition zu lauschen und ihr zu vertrauen. Eine gesunde und ausgebildete Intuition muss aber trainiert werden. Intuition fußt nicht auf Wissen, sondern speist sich aus gelebten Erfahrungen und der Vielfalt an erfahrenen Emotionen. Intuition lässt sich nur durch emotionale Arbeit, Achtsamkeit und Lebensmut ausbauen. Intuition ist Verbundenheit mit der Natur. Wenn sich die Grenze zwischen dem Ich und dem Gegenüber, dem Baum, dem Wind, dem Partner, der Musik, dem Kunstwerk oder der Gemeinschaft auflöst, dann sind wir schwingungsfähig, sprichwörtlich auf einer gemeinsamen Wellenlänge. Diese intuitiven Flow-Erlebnisse, in denen wir ganz im Hier und Jetzt ruhen, Zeit und Raum ihre Bedeutung verlieren, Konzentration der schier uferlosen Aufmerksamkeit weicht und Produktivität und Erholung Hand in Hand gehen, sind für die meisten Menschen ein völlig unbekanntes Phänomen. Und doch ist dieser Zustand des Flows, die Verbindung zur Natur, das Vertrauen auf die eigene Intuition und die Gewissheit, als Teil einer großen Schöpfung gut und richtig zu sein, Bestandteil eines uralten und essenziellen menschlichen Erfahrungsschatzes.

      In unserer modernen Welt sind die Folgen der Abwesenheit dieser gelebten Weisheit an allen Ecken und Enden sichtbar. Alkoholismus, Drogensucht, übersteigerte Sexualität, männliche Machtgebärden, die Unterdrückung des Weiblichen, Burn-out, Depressionen und der unstillbare Durst nach Event, Konsum und oberflächlicher Dauerunterhaltung sind Symptome einer nicht zur Ruhe kommenden Gesellschaft, die sich aber zugleich vor der Option einer geerdeten und aufmerksamen Weltsicht fürchtet. Reduktion, Achtsamkeit und Intuition sind Spiegel, die uns auf uns selbst zurückwerfen.