Lukas Vogel

Schreckliche Gesellschaft


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unter Papst Pius IX.

       Dritter Abschied

       Bilanz

       Blick hinter die Kulissen

       Die Quellen

       Die Bilder

      «Whether you believe in ghosts or not, there is no doubt they make ideal guides for exploring the thoughts and emotions of our ancestors.» Owen Davies

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      ZWEI BLICKE Unbeschwert spielen die Kinder in Haus und Garten. Schönes Sommerwetter lockt, es ist Feiertag dazu: Mariä Himmelfahrt, 15. August 1862. Melchior Joller, seine Frau Karoline und der älteste Sohn Robert sind unterwegs. Die 15-jährige Magd Christine Christen ist mit den übrigen Kindern allein zu Hause: «Vor Mess gieng dann das Heinrike auf den Abtritt u[nd] rief mir ich solle kommen. Es sagte es habe an der Thür klöpfelen gehört. Wir sagten, wenn es etwas sei so solle es wieder klöpfelen bevor wir 10 gezählt. Und wirklich! Bevor wir laut 10 gezählt, klöpfelte es an der Abtrittthüre.» Nach mehreren solchen Antworten wächst aus dem selbstvergessenen Kinderspiel heraus die Angst. Die Kinder fliehen vors Haus. Immer wieder kehren sie ins Haus zurück, nur um festzustellen, dass zuvor verschlossene Türen offen stehen. Auch die Türe zu Melchior Jollers Arbeitszimmer. Sie schliessen sie wieder ab und hängen den Schlüssel an den Nagel. «Als wir das 4te Mal hinauf kamen, war nicht nur diese Thüre, sondern noch 4 Thüren in 2ter Etage offen, die vorher zu, aber nicht geschlossen gewesen waren u[nd] auch die Thüre in der Stube unten u[nd] alle Fenster daselbst, die zu gewesen. Hierauf machten wir wieder alle Thüren u[nd] Fenster zu u[nd] giengen wieder vor’s Haus.»

      Joller schreibt einige Tage später auf, was in seiner Abwesenheit im Haus vor sich gegangen sei: «Im Laufe des Vormittags, als sich die Melanie, circa 14 Jahre alt, mit dem Dienstmädchen augenblicklich allein befand, erwähnte sie, die Henrika (ihre jüngere Schwester) wolle schon oftmals beim Abtritte an die Hauswand so sonderbar klopfen gehört haben, worauf beide sich dahin begaben. Henrika, die in der Nähe weilte, kam ebenfalls herbei und bekräftigte diese Behauptung. Die Melanie aber, da sie nichts wahrnahmen, wollte nicht daran glauben und ermannte sich in auffallendem Tone zu rufen: ‹In Gottes Namen, wenn es etwas ist, soll es kommen und klopfen!› Und – sogleich fieng es an zu klopfen wie mit einem Fingerknöchel.»

      Am Vormittag des 15. August 1862 beginnt zaghaft und leise, was sich innert Tagen zu einer unfassbaren und bedrohlichen Serie von Erscheinungen ausweitet. Angst und Schrecken greifen in Jollers Familie um sich. Mehr als zwei Monate lang weiss kein Familienmitglied, wann, wo und in welcher Gestalt das Grauen wieder auftauchen und wen es bedrohen wird. Am 23. Oktober zieht die Familie fluchtartig und für immer aus der Spichermatt in Stans aus. In diesem Moment verschwinden die Erscheinungen. Kein Besitzer und keine Bewohnerin des Hauses werden je wieder etwas Ähnliches erfahren oder erleben.

      Es kommt anders. Im Frühherbst 1863 erscheint Jollers schmale und unscheinbare Druckschrift mit rund 90 Seiten Umfang im Verlag von Franz Hanke in Zürich. Hanke stammt aus dem preussischen Gröbnig bei Leobschütz, dem heutigen polnischen G[ł]ubczyce. Er lässt sich in Zürich nieder, erhält 1855 das Zürcher Bürgerrecht und führt zwischen etwa 1840 und 1880 eine Verlagsbuchhandlung, die sich in erster Linie der christlichen Erbauungsliteratur widmet. So legt er die Schriften des frühen reformierten Pfarrers und Schriftstellers Johann Arndt wieder auf, des Vorläufers des Pietismus. Ebenso Benjamin Schmolck, Pastor aus Niederschlesien, der ebenfalls dem Pietismus nahesteht und dessen Lieder und Gebete unzählige Male kolportiert und nachgedruckt werden. Rund um dessen 100. Geburtstag 1841 verlegt Hanke weiter den Zürcher Philosophen und angesehenen Prediger Johann Caspar Lavater, der ausserhalb seiner Heimatstadt vor allem wegen seiner Physiognomik berühmt geworden ist.

      Hanke beschränkt sich aber nicht auf religiöses Schrifttum. Vielmehr veröffentlicht er eine Naturgeschichte der Vögel des zu jener Zeit sehr populären Zürcher Zoologen Heinrich Rudolf Schinz, daneben Henry Webers Vollständiges Ortslexikon der Schweiz oder auch 1867 das Adressbuch der Stadt Zürich. In diesem verlegerischen Umfeld erscheint nun Jollers Schrift, zurückhaltend im Umfang und unauffällig in der Gestaltung. Sie wird nur in einer einzigen Auflage gedruckt.

      Den Titel seines Werkes muss Joller nicht weit herholen. Unüberhörbar lehnt er sich an ein Werk an, das zwei Jahre zuvor in Leipzig veröffentlicht worden ist, verfasst von einem Professor der Universität Bern: an Maximilian Pertys 1861 erschienenen Mystische[n] Erscheinungen der menschlichen Natur. In diesem umfangreichen Buch von 770 Seiten kommen sämtliche Formen der Erscheinungen bereits vor, die Joller nun in seiner Darstellung schildert und mit seiner Familie im eigenen Haus in Stans erlebt hat. Perty ist auch der Verfasser der kurzen Vorrede zu Jollers Schrift. Im Brief an Hurter preist Joller diese Vorrede als «von einem in diesen Sachen erfahrenen Gelehrten und Professoren an einer der schweiz. Hochschulen» stammend, gibt aber den Namen des Autors nicht preis. Hingegen fügt Joller der eigentlichen Vorrede eine Anmerkung bei, in der er den Verfasser der Vorrede mit ähnlichen Worten verdankt. Zudem bezeichnet er ihn dort als «theilnehmenden Freund».

      Der Umschlag des kleinen Büchleins gibt keine Auskunft darüber, dass der Autor inzwischen selber nach Zürich umgesiedelt ist und mit seiner Familie in einer kleinen, stickigen Wohnung in einer Mietskaserne in Aussersihl lebt. Vergeblich erhofft sich Joller vom Verkauf dieses Büchleins ein anständiges Einkommen. Denn die Ereignisse, über die er darin berichtet, haben ihn und seine Familie zum Verlassen des Hauses und zur Flucht aus Stans gezwungen. Als Advokat oder Anwalt darf Joller in Zürich nicht arbeiten, sein Einkommen und damit die Ernährung der Familie stehen auf unsicherem Grund.