bei Wohnbauten. Im Lauf des 20. Jahrhunderts brachen tatsächlich einige dieser Balken ein.
Seit seiner Errichtung erfuhr das nunmehr rund 60-jährige Haus stärkere Veränderungen. Die erste datiert möglicherweise aus dem Jahr 1831, als am 28. und 29. August Wolkenbrüche und lang andauernde Regengüsse den ganzen Talboden um Stans herum und somit auch die Spichermatt überschwemmten. 1850 liess Joller auf der nordöstlichen Seite einen Anbau errichten. Er war zu diesem Zeitpunkt seit fünf Jahren Hausherr in der Spichermatt, im Jahr zuvor war seine Mutter gestorben, Klara Waser, die nach damaliger Sitte nicht den Familiennamen ihres Mannes trug. Der Anbau umfasste über dem Keller ein einziges Wohngeschoss. Er besass einen separaten Eingang und enthielt drei Zimmer und eine Küche. Allerdings gab es im Inneren des Hauses möglicherweise eine Verbindung zwischen den beiden Hausteilen. Der Abtritt des Haupthauses war durch einen schmalen Gang zu erreichen und lag Wand an Wand mit dem Abtritt des Anbaus. Gemäss Joller war der Abtritt des Hauses für die Mieter des Anbaus nicht zugänglich. Näheres dazu führte er jedoch nicht aus und öffnete damit Raum für Spekulationen. Als bemerkenswerte Besonderheit war der Anbau mit einem «Plattdach von Asphalt gedeckt», das zugleich als Terrasse diente. Diese Bauform war um 1850 zwar in den Städten bereits bekannt, auf dem Land hingegen sehr selten. Joller hatte mit dem Tod seines Vaters 1845 das Haus übernommen, deshalb muss er der Bauherr von Anbau und Flachdach gewesen sein. Zweifellos wollte der studierte Anwalt mit diesem städtisch anmutenden Bauteil seine Modernität und Aufgeschlossenheit dem Fortschritt gegenüber zur Geltung bringen. Zudem trug der vermietete Anbau einen Teil von Jollers Haushaltskosten.
DIE GROSSMUTTER VERONIKA GUT Bauherrin der Spichermatt war Jollers damals verwitwete Grossmutter Veronika Gut (1757–1829). Sie hat in der lokalen Historientradition ihren Ehrenplatz erhalten – weniger als die reaktionäre Kämpferin gegen alles Neue und Fremde, die sie auch war. Vielmehr steht sie heute als eine der ersten politisch aktiven und deshalb in den Quellen zur Geschichte des kleinen Kantons fassbaren Frauengestalten da. Bei der Niederschrift seiner Darstellung schaute Joller mit mildem Blick auf seine Grossmutter zurück. Er beschrieb sie als eine Person mit «männlichem Charakter» und einer «ernsten Miene», als eine «Frau von ächtem alten Schrot und Korn». Sie sei 1829 gestorben «als eine allgemein geachtete, gerechte, mildthätige und fromme Frau». Dass sie den Nidwaldner Krieg von 1798 mit Brandreden, mit Waffen und Geld befördert hatte und auch den Beitritt Nidwaldens zum neuen Bundesvertrag von 1815 zu hintertreiben versuchte, lässt er nicht unerwähnt, obwohl dies von seiner eigenen politischen Haltung stark abweicht.
Veronika Gut verlor in den Wirren der Helvetischen Republik (1798–1803) alle ihre Nachkommen ausser ihrem Sohn Jakob (1786–1845), Jollers Vater. Mit der Mediationsakte vom Frühjahr 1803 beruhigte sich die Lage in der Schweiz wieder. Jakob Joller war noch keine 18 Jahre alt, als er im Februar 1804 die um fünf Jahre ältere Klara Waser (1781–1849) heiratete. Von den zehn Kindern des Paares starben fünf sehr jung. Melchior, geboren am 1. Januar 1818, war das jüngste der überlebenden Kinder und der einzige Knabe. Die drei Schwestern Franziska, Anna-Maria und Anna Josefa blieben ledig. Einzig die zweitälteste Schwester Veronika verheiratete sich 1845. Im gleichen Jahr starb Jakob Joller, und Melchior übernahm den elterlichen Hof.
Seinen Vater Jakob beschrieb Joller in den wärmsten Worten als einen «Mann von hellem Geiste und tiefem Gemüthe. Wer ihn kennen lernte, musste ihn schätzen und lieben.» Fröhlich und friedliebend, habe er «zu den wenigen Liberalen dieses Ländchens» gezählt und sei «trotz seiner verpönten politischen Gesinnung mit den wichtigsten Verwaltungen der Gemeinde Stans betraut» worden. Jakob Joller hatte die Stelle des Kirchmeiers inne, war also Finanzverwalter der Kirchgemeinde. Über seine Mutter Klara Waser verlor Joller kein Wort. Die Bilder, die er in seiner Schrift entwarf, und seine Wortwahl zeugen von einer stark verengten Sicht: Was bei der Beschreibung einer Familie zählt, ist einzig die Erblinie vom Vater – oder im Ausnahmefall von der verwitweten und politisch aktiven Mutter – zum Sohn. Zudem ist es nicht statthaft, über Familienangehörige, etwa seine Grossmutter, etwas Negatives zu erzählen. Joller bewegt sich in den Denkmustern und Verhaltensregeln der bürgerlichen Gesellschaft seiner Zeit.
SELTSAMER BESUCH Am 15. August 1862, dem Festtag Mariä Himmelfahrt, geschieht etwas sehr Merkwürdiges. Joller berichtet von den Kindern: «Wie sie da unter einem Baume sich zusammengefunden, humpelte eine steinalte Jungfer auf sie zu, sich erkundigend, ob das das Haus sei, wo Veronika Gut nach dem Ueberfalle gewohnt habe. Auf die Bejahung, und indem sie ihr Obst anboten, erzählte sie ihnen, dass sie die ‹Vronegg› [Veronika], ihre Urgroßmutter gar wohl gekannt hätte.» Und dann gibt Joller eine Geschichte wider, welche die alte Frau seinen Kindern erzählt habe: «Sie habe auch den vier Schwestern ihres Großvaters, die im Aawasser ertrunken, in der Kapelle St. Joder auf Altzellen ‹geklenkt› (die Sterbeglocke geläutet). Es sei ihr noch, wie wenn’s gestern gewesen wäre, sie und ihr Bruder, dort Sigrist, hätten schon am Abend vorher ein Unglück vermuthet. Da sei’s mit Nachtwerden wie ein weißgekleideter Mann mit einem Lichte an die Kapelle herangekommen, und sie hätten geglaubt, es wolle Jemand ‹klenken› lassen. Wie ihr Bruder aber hinübergekommen sei, habe er Niemand weder nah noch fern gesehen, und sei darauf schwer krank geworden. Gegen den Morgen habe man ihnen die Trauerbotschaft gebracht, worauf sie die Todtenglocke lange geläutet habe.» Damit endet die Erzählung der alten Frau. «Mit Dank und allerlei frommen Wünschen trat sie dann wieder ihren Heimweg an.»
Joller schafft mit dieser Geschichte eine weitere direkte Verbindung zwischen den Spukereignissen in der Spichermatt und seiner Grossmutter Veronika Gut. Der Tod von deren vier Töchtern ging auf den Umstand zurück, dass ein anonymer Rufer im September 1801 die Familie der Veronika Gut mitten in der Nacht zur Flucht aus der Spichermatt bewog. Beim Überqueren eines reissenden Baches brach der Steg ein, und Veronika Gut musste zusehen, wie ihre vier Töchter in den Tod gerissen wurden. Einziger Überlebender von Veronika Guts Kindern war Jakob. In die Geschichte dieses schrecklichen Unglücks bettet Joller eine zweite Gespenstergeschichte ein: die Geschichte vom weiss gekleideten Mann mit dem Licht, der plötzlich verschwand, was den Sigrist schwer krank machte. Die eigentümliche Begegnung mit der «steinalten Jungfer» soll sich am Nachmittag des 15. Augusts 1862 zugetragen haben. Die Magd Christine Christen, die zwei Wochen später zu den Ereignissen in Jollers Haus intensiv befragt wurde, wusste viel zu erzählen. Aber diese keineswegs alltäglich klingende Geschichte von dem seltsamen Besuch – davon erzählte sie im Verhör kein Wort.
Warum flicht Joller diese Geschichte in seine Darstellung ein? Allein durch ihre Erwähnung stellt er einen Zusammenhang zwischen der Spukgeschichte und dem Auftritt der Alten mitsamt deren Erzählung her. Er suggeriert damit – bewusst oder unbewusst –, dass er die Ereignisse ab diesem Tag in seinem Haus als eine Vorankündigung auffasst, dass er darin den Hinweis einer übersinnlichen Macht auf bevorstehende einschneidende Eingriffe in das Leben seiner Familie erblickt. Für den Auftritt der alten Frau gibt es keine andere Quelle als Jollers eigene Schrift.
LATEINSCHULE IN STANS Seine Schulzeit war Melchior Joller bloss einen Nebensatz wert. Bis 1835 ging er bei den Kapuzinern in Stans in die Lateinschule. Die Schule lag am oberen Dorfrand von Stans, integriert ins Kapuzinerkloster. Sie hatte zwar keinen besonderen Ruf in diesen Jahren, aber sie lag so nah, dass der Knabe Melchior sie täglich zu Fuss erreichen konnte. Sein Weg führte entweder mitten über den Dorfplatz von Stans, vorbei an der imposanten, leicht erhöht liegenden Pfarrkirche. Oder er wählte den Pfad am oberen Dorfrand, entlang der Mauer des Frauenklosters.
Anders als in späteren Jahren wurden in der Schule der Stanser Kapuziner zu dieser Zeit keine Priester ausgebildet. Aber wie alle weiterführenden Schulen in den katholischen Gegenden der Schweiz war auch diese in erster Linie der Vorbereitung auf die Priesterlaufbahn verpflichtet. Wollte Joller Priester werden? Hatte sein liberal gesinnter Vater diese Berufung für seinen Sohn vorgesehen? Das zur Schweiz gehörende Gebiet des Bistums Konstanz war bereits 1814 von Konstanz gelöst worden. Ein Jahr vor Jollers Eintritt in die Stanser Lateinschule wurde 1828 der Kanton Luzern dem neu gegründeten Bistum Basel zugeschlagen, während die restliche Innerschweiz und also auch Nidwalden zum Bistum Chur gelangte. Der Einfluss des aufgeklärten Konstanzer Generalvikars Ignaz von Wessenberg und seines Luzerner Vertreters, des Stadtpfarrers Thaddäus Müller, wurde mit diesen Massnahmen massiv