Lukas Vogel

Schreckliche Gesellschaft


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wichtiger Schritt zur Eindämmung liberaler Ideen innerhalb der katholischen Kirche der Schweiz. Die liberalen Politiker in den katholischen Gegenden der Schweiz waren zwar trotz häufiger gegenteiliger Anschuldigungen sehr wohl katholisch – die liberale Luzerner Verfassung von 1831 machte sogar ausdrücklich das Stimm- und Wahlrecht von der Zugehörigkeit zur katholischen Kirche abhängig. Aber in dieser antiliberalen Stimmung der offiziellen Kirche dachte Jakob Joller kaum daran, seinen Sohn Melchior auf die Priesterlaufbahn vorzubereiten. Zumal Melchior als einziger Sohn dereinst den Hof Spichermatt erben sollte.

      Zu diesem Zeitpunkt wurde in der Stadt bereits heftig über den Abbruch des Obertors diskutiert. Es lag ein Vorschlag auf dem Tisch, an dessen Stelle die kantonale Zentralschule zu bauen. Doch die heftigen Parteikämpfe zwischen den regierenden Liberalen um den herausragenden Kasimir Pfyffer und der konservativen Opposition verhinderten das Projekt. Die bestehende Höhere Lehranstalt genoss nicht den besten Ruf. Zum einen war sie altertümlich organisiert. Auf das sechsjährige Gymnasium mit Altgriechisch und Latein im Zentrum folgte das Lyzeum. Hier musste der Student wählen zwischen der philosophischen Richtung, die ihn auf den Besuch einer Universität vorbereitete, oder der dreijährigen theologischen Richtung, die ihm zum Priesterberuf führte. Erst 1829 wurde zudem eine polytechnische Abteilung eingeführt, doch bereits 1835 wieder geschlossen, weil sie sich im unklaren Bereich zwischen einer handwerklichen Ausbildung und einem naturwissenschaftlichen Studium auf Hochschulstufe bewegte und damit an den Bedürfnissen der Zeit vorbeizielte.

      Freilich geriet die Schule auch aus ganz anderen Gründen ins Gerede. Professor Joseph Anton Fischer, der als liberaler Moraltheologe ab 1834 in Luzern lehrte, wurde verdächtigt, mit seiner Haushälterin und deren unehelichem Sohn im Konkubinat zu leben. Fischer trat darauf 1839 als Professor zurück. Weiteres Ungemach erwuchs der Schule durch den Geschichtsprofessor und Grossrat Alphons Pfyffer von Heidegg. Dieser heiratete 1838 eine schottische Pietistin und wandte sich vom katholischen Glauben ab. Deswegen verlor er alle Ämter und musste Luzern verlassen. Schliesslich erlebte Joller, wie ein Mitschüler 1835 die Hostie verspottete. Dieser wurde zu drei Monaten Zuchthaus verurteilt und von der Schule verwiesen. Im Jahr darauf gab der Regierungsrat in seinem jährlichen Bericht kund, es sei dringend notwendig, «die Zügel der etwas erschlafften Disziplin straffer anzuziehen».

      Die höhere Lehranstalt in Luzern sah sich rasch sinkenden Studentenzahlen gegenüber. Das Gymnasium und die philosophische Abteilung des Lyzeums zählten 1830 noch 254 Studenten, acht Jahre später waren es nur mehr deren 109. Die konservative Opposition witterte dahinter eine kirchenfeindliche Schulpolitik der liberalen Regierung. Diese halte die Väter davon ab, ihre Söhne an das Luzerner Gymnasium zu schicken. Sicher spielte der Ausbau der Sekundarschulen eine wichtige Rolle. Denn viele Knaben, die eine über die Volksschule hinausgehende Bildung anstrebten, mussten zuvor das Gymnasium besuchen, auch wenn sie kein Universitätsstudium im Sinne hatten. Und doch war das Argument der Konservativen nicht einfach aus der Luft gegriffen: Das als konservativ geltende und streng an der Kirchendisziplin orientierte Schwyzer Jesuitenkollegium zählte 1838, zwei Jahre nach seiner Eröffnung, bereits 128 Gymnasiasten und damit einige mehr als Luzern. In diesen politisch hoch aufgeladenen Zeiten schickten die Familien ihre Söhne – für Töchter gab es an diesen Schulen noch keinen Platz – auch an politisch entsprechend gefärbte Lehranstalten.

      Der junge Melchior Joller bewegte sich als 17- bis 20-Jähriger durch eine kleine, noch beinahe mittelalterlich anmutende Stadt mit düsteren Winkeln und offenem Abwasser. Wer nach Sonnenuntergang in den Gassen unterwegs war, musste eine Laterne mit sich tragen. Andernfalls machte er sich verdächtig und lebte gefährlich. Über Jahrhunderte war das Umland beherrscht von dieser Stadt, der ganze Staat war beinahe Privateigentum einer kleinen Gruppe führender Familien. Die Mauern der Stadt hatten keine andere Belagerung gesehen als die gelegentlichen bewaffneten Zusammenrottungen von eigenen Leuten, von unzufriedenen Bauern und aufbegehrenden Dorfbewohnern. Doch seit etwas mehr als einer Generation war nun alles in Bewegung. Die Zeit der französischen Besatzung, die Helvetik, hatte der alten Herrschaft den Garaus gemacht. Ein neues Gleichgewicht zwischen Stadt und Land, zwischen vorwärtsstrebenden Eliten und der Tradition verpflichteten Familien, zwischen aufklärerisch gesinnten Klerikern und der immer stärker nach Rom orientierten Kirche war noch nicht gefunden.

      Der Kampf der Weltanschauungen war in vollem Gange. Die ganze Schweiz wie auch die einflussreichen benachbarten Mächte, allen voran die Habsburgermonarchie unter Fürst Metternich, beobachteten mit Argusaugen, wie es in Luzern kochte und brodelte. Denn mit dem liberalen Umsturz von 1831 erhielten die auf Veränderung sinnenden Kantone in der Tagsatzung eine kleine Mehrheit. Eine Umgestaltung der ganzen Schweiz im liberalen Sinne lag in der Luft. Daran hatten vorab die konservativen Mächte kein Interesse.

      Die eifrigen Luzerner Liberalen scheuten sich auch nicht, in die Streitereien in den Nachbarkantonen einzugreifen. Die äusseren Bezirke des Kantons Schwyz gaben sich 1833 eine liberale Verfassung und wollten als «Kanton Schwyz äusseres Land» anerkannt werden, gerade so wie es Basel-Landschaft vorgemacht hatte. Beide Schwyzer Parteien fanden im katholischen Machtzentrum Luzern ihre Verbündeten. Ähnliches geschah noch einmal 1838. Es kam zu heftigen Auseinandersetzungen und einer richtigen Prügelei an der Landsgemeinde zwischen der liberal orientierten Partei der Kleinbauern, die in Anspielung auf deren Ziegen und Schafe als «Klauenpartei» bezeichnet wurde, und der traditionalistisch ausgerichteten «Hörnerpartei» der Grossviehbauern. Die Luzerner Regierung liess es sich nicht nehmen, aufseiten der Klauenmänner in den Streit im Nachbarkanton einzugreifen.

      Informiert, angefeuert und zusammengehalten wurden die beiden wichtigsten politischen Strömungen in Luzern von zwei Zeitungen, die beide 1831 gegründet wurden. Auf liberaler Seite war es der Eidgenosse, auf konservativer der Waldstätter-Bote. Generell hatten die Zeitungen in jenen Jahren nur eine Auflage von einigen Hundert Exemplaren. Aber sie wurden eifrig gelesen, vorgelesen und debattiert. Und vielleicht noch mehr als die Politiker selber frönten die Zeitungen der Lust, die Dinge zuzuspitzen und zu polemisieren.

      In dieser Welt lebte der junge Joller, sie prägte den Studenten an der Höheren Lehranstalt in Luzern. Er wird sich später Kopf voran sowohl ins Pressewesen wie in die Politik stürzen. Doch in Luzern erlebte er auch andere Veränderungen. Kurz vor seinem Schulantritt brannte in der Altstadt, Unter der Egg und am Kornmarkt, eine ganze Häuserzeile nieder. Dies war der Startschuss für die bauliche Modernisierung der Stadt. Mit dem Schutt der abgetragenen Brandruinen wurde das sumpfige linke Reussufer befestigt, es entstand vor der Jesuitenkirche eine Quaianlage. An diesem Quai wurde ab 1837 das Stadttheater gebaut. Der Schwanenwirt, dessen Haus ebenfalls ein Raub der Flammen geworden war, baute sein Hotel an einem neuen Ort wieder auf: Dort, wo es heute noch steht, seine Fassade erstmals nicht mehr der Gasse, sondern dem See zugewandt. Den Vorgarten seiner Wirtschaft liess der Wirt aufschütten und zu einem repräsentativen Platz umgestalten. Zu diesem Zweck wurde 1835 das Hoftor abgerissen und die Hofbrücke um 75 Meter verkürzt. Zwei Jahre später war Melchior Joller dabei, als die «Stadt Luzern», das erste Dampfboot auf dem Vierwaldstättersee, erstmals hier am Schwanenplatz seine schwarzen Rauchschwaden in den Himmel stiess. Die Stadt kehrte sich unter Jollers aufmerksamem Blick von einem bäuerlich anmutenden Nest in eine sich mondän herausputzende Touristendestination.