Moser zu den bestdokumentierten der Weltliteratur».
Ob gewollt oder ungewollt, Joller gibt durch seinen Text eine bestimmte Richtung der Interpretation vor. Er beginnt sanft und langsam mit der Bauart des Hauses, damit sozusagen die Bühne und Kulisse für die folgende Handlung umreissend. Es folgt ein Rückblick auf die Geschichte seiner Familie, angefangen bei seiner Grossmutter Veronika Gut, der Erbauerin des Hauses, bis zu seinen Kindern, damit das Personal bezeichnend. Joller skizziert eine Einheit von Ort, Zeit und Handlung, wie bei einem klassischen Drama. Die Ereignisse spielen sich demnach nicht zufällig in diesem Haus, nicht zufällig unter diesen Menschen ab. Das Gebäude, seine Geschichte und seine Bewohnerschaft sind notwendige Voraussetzungen dafür.
Im Tonfall des präzisen Rapporteurs, des distanzierten Beobachters streift Joller gleichsam im Vorübergehen seine eigene politische Karriere. Wie beiläufig erwähnt er seine Wahl in den Nationalrat, die Gründung des liberalen Nidwaldner Wochenblatts, den damals sehr viel Aufsehen erregenden Mordprozess um die Geschwister Bali und schliesslich das «mächtige nationale Verbrüderungsfest der Schützen», den Höhe- und Endpunkt seines politischen Engagements. Das Kapitel über den Ort des Geschehens lässt er in einer kurzen Bemerkung über seine sieben gesunden Kinder ausklingen. Seine Frau, die Mutter dieser Kinder, erwähnt er dabei nicht.
Nach diesen Ausführungen über die Umstände von Ort und Zeit beginnt die eigentliche Erzählung, die Darstellung selbsterlebter mystischer Erscheinungen. Es folgt eine breite Palette von Vorkommnissen, von feinem Klöpfeln und heftigem Poltern über das mehrmalige Aufreissen und Zuschlagen von Türen und Fenstern unter den Augen der Familienmitglieder, über das blitzschnelle Herumwerfen von Möbeln, über die Erscheinung von durchsichtigen Gestalten, von schwebenden Armknochen, von verdoppelten Menschen, über Berührungen von unsichtbaren kalten Händen, bis hin zu einem Pferdegeschirr im Ofenrohr, das fast nicht mehr daraus zu entfernen war. Die Erzählung berührt zahlreiche Erscheinungen, von denen viele auf die alleinige Wahrnehmung durch eines der Familienmitglieder zurückgehen. Andere hingegen wurden von mehreren Leuten wahrgenommen – denn «dass es klopfte, bezweifelt Niemand».
In chronologischer Reihenfolge breitet Joller die Geschehnisse aus. Sie sind einmal von den Kindern oder von seiner Frau erlebt, ein andermal von ihm selber; bisweilen erwähnt er Zeugen, dann wieder gibt es keine. An einzelne verstreute Ereignisse seit dem Herbst 1860 will sich die Familie aber erst nach dem Beginn der heftigen Erscheinungen erinnern. Diese brechen am 15. August 1862 los, dem Tag von Mariä Himmelfahrt, und dauern bis zum Auszug der Familie aus dem Haus am 23. Oktober des gleichen Jahres.
Was geht Joller durch den Kopf, als er zwischen Oktober 1862 und dem Sommer 1863 diese Erlebnisse zu Papier bringt? Wen stellt er sich als seinen Leser, seine Leserin vor? Denkt er an Maximilian Perty, den Professor für Zoologie und Anthropologie an der Universität Bern? Oder denkt er an seinen ehemaligen Mitstreiter Karl Deschwanden, den liberalen Anwalt und Politiker in Stans? Hat er den frömmlerischen Pfarrer Remigius Niederberger von Stans vor Augen? Oder vielleicht die Verwandtschaft seiner Frau im Badischen, in Freiburg im Breisgau und in Konstanz? Der nüchterne Tonfall seines Berichts legt nahe, dass er sich oft an die Wissenschaft und deren Vertreter richtet. Doch dann schreibt er Dinge nieder, die für die allfällige Aufklärung der Geschehnisse von keinerlei Bedeutung sind. Er sei «Mitglied des Centralcomites vom eidgenössischen Schützenvereine» gewesen und habe deshalb bei der Begrüssung der eidgenössischen Offiziersfahne dabei sein müssen. Öfters erwähnt er, dass er für Geschäfte nach Luzern oder Zürich habe reisen müssen. Dies hält er nicht für die Wissenschaft, sondern für seine ehemaligen Weggefährten fest. Ihnen ist er fremd geworden, weil sie auf seine Erlebnisse kopfschüttelnd bis ablehnend reagiert haben. Oder weil er sich vielleicht schon früher von ihnen entfernt hat.
2
DER HOF SPICHERMATT Kann man das Unfassbare fassen? Kann man dem Sinnlosen einen Sinn geben? Joller rang bei der Niederschrift seiner Darstellung mit diesen Fragen. Weshalb wurde gerade er, seine Familie, sein Haus und letztlich sein Leben von diesen schrecklichen Ereignissen ergriffen und gepackt? Fassungslos stand er seinem eigenen Schicksal gegenüber. Schreibend zwang er sich die Haltung des rationalen Beobachters auf, der nur berichtete, was er selber sah, hörte und spürte. Allein aus dieser Distanz konnte er den Versuch wagen, die Flut der Erlebnisse und Empfindungen in eine darstellbare Ordnung zu bringen.
Vom Tag seiner Geburt an, dem 1. Januar 1818, lebte Joller in der Spichermatt in Stans. Einzige Ausnahme waren die Jahre seines Studiums in Luzern, Freiburg und München. Er wuchs hier als jüngstes Kind zusammen mit vier Schwestern auf, fünf weitere Geschwister starben sehr früh. Hier lebte er als junger Advokat nach dem Studium, hierher zog seine Frau, hier «blühten mir sieben gesunde Kinder, 4 Knaben und 3 Mädchen». Als einziger Sohn erbte er Haus und Hof, als sein Vater 1845 starb. Das Haus war ihm mehr als eine Behausung, es war seine Heimat, er war «als neugieriges Kind bei allen Reparaturen» dabei gewesen, und also «war mir buchstäblich genommen kein fingerbreites Plätzchen unbekannt».
In diesem Haus erlebte Joller zusammen mit seiner Familie die unerklärlichen Erscheinungen, die ihn auf eine tragische Art haben berühmt werden lassen. Hier überkam ihn das Grauen, hier durchlebte er die schrecklichen Tage und Nächte, die ihn schliesslich in die Flucht trieben.
Durch das Tal von Stans führte damals kein Durchgangsweg. Einzig die Verbindung zum Klosterdorf Engelberg passierte das 2000-Seelen-Dorf. Haus und Hof Spichermatt standen in der Ebene, umgeben von schroffen Bergflanken, direkt an der Landstrasse vom Vierwaldstättersee bei Stansstad nach Stans. Der Stanser Dorfkern mit der Kirche, dem Rathaus, verschiedenen Gasthäusern und stattlichen Bürgerhäusern war in etwa einer Viertelstunde zu Fuss erreichbar. Um von der Spichermatt in die benachbarten Dörfer Ennetbürgen, Buochs und Beckenried zu gelangen, musste man das Dorf Stans nicht durchqueren. Es bestanden direkte Wege über die noch nicht entwässerte Ebene, auf der heute der Flugplatz Buochs liegt. Gegen den Nordwind war das Haus durch den Bürgenberg geschützt, dessen steile Flanke dem Haus sehr nahe kam. Gegen Osten war die Landschaft verhältnismässig offen, der Blick ging in die Richtung des Talkessels von Schwyz und wurde erst begrenzt von den beiden Mythen. Im Süden stand mächtig das Stanserhorn. Es beraubte im Winter einen Teil des Stanser Dorfes jeglicher Sonneneinstrahlung, die Spichermatt lag freilich ausserhalb dieser Schattenzone. Im Westen schränkte die Anhöhe von Ennetmoos den Blick ins benachbarte Obwalden ein, erlaubte aber bei entsprechender Wetterlage eine wunderbare Sicht auf die Obwaldner und teilweise auch in die Berner Alpen. In Jollers eigenen Worten stand das Haus «in einer der freundlichsten und sonnigsten Lagen des Stansertales».
Der Vorgängerbau war in den Wirren des Nidwaldner Krieges vom September 1798 in Flammen aufgegangen. Die Familie hatte dringend eine neue Behausung gebraucht. Diese wurde nach dem damals in Nidwalden üblich gewordenen Bauernhaus-Typus gebaut: Ein leicht abgesenktes, gemauertes Erdgeschoss enthielt neben dem eigentlichen Keller die Käserei, «Hütte» genannt, und den möglichst kühlen Milchkeller. Auf diesem Kellergeschoss ruhten zwei aus Holz aufgebaute Vollgeschosse und zwei Dachgeschosse. Im unteren Wohngeschoss befanden sich die Stube, die Nebenstube und die Küche, im oberen eine unterschiedliche Anzahl als «Kammern» bezeichnete Zimmer. Im unteren Dachgeschoss lag ein grosser Raum, der «Saal». Je nach Reichtum und Geltung der Besitzerfamilie war der «Saal» fast leer oder aber zu einem repräsentativen Raum für Empfänge ausgebaut. Zuoberst unter dem Dachgiebel befand sich die «Diele», wo die Wäsche zum Trocknen aufgehängt wurde.
Nach diesem Schema wurde das Haus Spichermatt errichtet, drei Jahre nach dem kurzen, aber zerstörerischen Krieg. Diesem waren am 9. September 1798 rund 400 Bewohnerinnen und Bewohner Nidwaldens und etwa 100 französische Soldaten zum Opfer gefallen, die Dörfer Stans, Stansstad, Ennetmoos und Buochs waren stark zerstört worden. Bis heute benennt der Volksmund in Nidwalden dieses Ereignis als «Franzosenüberfall». Der Neubau scheint freilich die Bauherrschaft finanziell sehr belastet zu haben, führte man ihn doch, wie Joller selber schreibt, «sehr einfach und flüchtig» aus, «um möglichst bald wieder unter ein eigenes Dach zu kommen». Verwendet wurden Balken, die nur etwa zwei Drittel der üblichen Stärke aufwiesen. Teilweise