wie im Spiegel an[zu]blicken« (Karl Rahner 1949, 12). Der Mensch braucht einen (objektiven) Spiegel, und der kann im überlieferten Gebetsschatz der Tradition gesehen werden. Zugleich muss er sein (subjektives) Innerstes, sein Herz vor diesem Spiegel öffnen – sonst wird er darin nichts erkennen. Rahner ruft deshalb zur steten Selbstkritik und Gewissenserforschung auf: Bin ich im Gebet wirklich bei mir und meinen innersten Regungen? Bete ich in diesem Sinne wirklich offen und ehrlich?
Auf die gegenteilige Versuchung macht Andreas Knapp (2005) aufmerksam: Wer sich im Gebet krampfhaft festhält, wer sich auf seine eigenen Probleme und Gedanken fixiert, landet entweder in egozentrischer Selbstsucht und narzisstischer Selbstübersteigerung oder in panischer Selbstflucht, tiefem Selbsthass und zerstörerischer Selbstverneinung. Beides verbaut den Weg zu einer realistischen und nüchternen Wahrnehmung der Welt und des eigenen Lebens. Den Schlüssel im Umgang mit dieser Versuchung sieht Knapp darin, sich selbst als Geheimnis anzunehmen und sich auf diese Weise loszulassen, um sich zu gewinnen (Mk 8,35). Es geht um einen Akt der Gelassenheit und der inneren Freiheit. Und dieser Akt wird leichter im Angesicht eines (vorgestellten oder realen!) Du vollzogen, dem sich der betende Mensch anvertraut, und noch leichter vor dem Du des christlichen Gottes, weil dieser in Jesus von Nazaret selbst das Geheimnis eines menschlichen Lebens angenommen hat. Ein wahrhaft befreiendes Gebet ist nach Knapp (in Orientierung an Ignatius von Loyola, EB 234, s.u. Kap. 4.3) dann ein Akt der Selbstübereignung, des liebenden Sich-Anvertrauens an das Leben. Die Liebe wird zum entscheidenden Kriterium guten Betens – jene Liebe, die der Beter empfangen hat, und jene, die er verschenkt.
Die beiden von Rahner und Knapp geschilderten Versuchungen können gut komplementär gelesen werden: Als Flucht in den Objektivismus und als Flucht in den Subjektivismus. Dabei ist die erste Versuchung, die Rahner schildert, eher die der 50er und 60er Jahre des 20. Jh. und sehr »konservativer« ChristInnen heute, die zweite Versuchung, die Knapp beschreibt, eher die des beginnenden 21. Jh. und sehr »progressiver« ChristInnen heute. Zusammengenommen plädieren beide für eine ausgewogene Balance von Objektivität und Subjektivität im Beten und vor allem für deren fruchtbare Verbindung. Denn nur so kann der Glaubende »den verborgenen Zustand seines Herzens wie im Spiegel anblicken« (Karl Rahner 1949, 12).
Von seiner ursprünglichen Intention her ist Gebet die liebende Begegnung mit der Wirklichkeit: Es ermöglicht deren Schmecken und Verkosten von innen her (»sentir y gustar internamente«, Ignatius von Loyola, EB 2), so dass uns in ihr Neues, Überraschendes aufgeht und Zukunftsperspektiven zeigt. Denn die Wirklichkeit ist für den Glaubenden das primäre Evangelium – noch vor jenem, das von Jesus von Nazaret erzählt. Beten ist rechtes Wahr-Nehmen und so gesehen ein Grundvollzug des Menschseins, eine »therapeutische Meditation« (Vincent Brümmer 1985). Und das gilt – ich wiederhole es nochmals – unabhängig davon, ob es Gott gibt oder nicht. Dass die »Technik« oder »Übung« des Betens einem Gelingen des menschlichen Lebens förderlich sein kann, kann auch ein Atheist verstehen.
3 Allerdings hält Schaeffler Austins Unterscheidung von vier Sprechaktklassen (s.u. Kap. 5.1) für nicht auf das Gebet anwendbar, weil er dieses zunächst nur als Kommunikation mit Gott versteht (Richard Schaeffler 1988, 18f). Gott aber braucht weder informiert noch motiviert werden – er ist es immer schon, denn er ist allwissend und allgütig.
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