Michael Rosenberger

Im Geheimnis geborgen


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das Gebet beginnen können, brauchen wir zunächst eine Arbeitsdefinition. Diese mag im Verlauf der Abhandlung verfeinert, ergänzt oder gar korrigiert werden, sie muss aber am Anfang klar umreißen, wonach wir suchen bzw. was wir untersuchen.

      Eine erste Annäherung bietet die Etymologie: Im Hebräischen des Alten Testaments begegnen für das Phänomen des Betens vielfältige Begriffe. Folgende finden sich häufig:

      – darasch = suchen

      – halal = preisen

      – palal (im Hitpael) = flehen

      – chanan (im Hitpael) = Huld erbitten

      – tefillah = Gebet

      – tehillah = Lied

      Damit ist schon eine große Bandbreite sowohl der möglichen Gebetsinhalte als auch der denkbaren Gebetsformen angedeutet. Es wird nicht leicht sein, all diese Varianten unter den Hut einer einzigen Definition zu bringen.

      Das Griechische bietet in der Septuaginta und im Neuen Testament v.a. eine Wortwurzel:

      – προσευχ

bzw. προσεύχομαι = bitten, flehen

      – εύχομαι = sich rühmen – versprechen – beten, flehen

      An der Tatsache, dass die eine Wurzel des Griechischen in der deutschen Übersetzung sehr viele Begriffe zur Auswahl fordert, zeigt den Wunsch der griechischen Bibel an, für viele benachbarte Phänomene einen Oberbegriff zu finden, ohne deren Vielfalt einzuebnen. Diesen Weg geht tendenziell auch das Lateinische:

      – oratio = Rede, Vortrag, Ansprache, Gebet und orare = reden, sprechen, beten werden aber ergänzt durch einen zweiten Terminus

      – precari = bitten, ersuchen, der u.a. im modernen Englisch »to pray« weiterlebt.

      Das Deutsche konzentriert sich auf den Begriff

      – »beten«, der von »bitten« abgeleitet ist, was seinerseits auf »binden« = vertraglich fordern zurückgeht.

      Eine brauchbare Definition des Gebets muss das Spektrum der etymologisch gefundenen Wortbedeutungen in etwa abdecken und auf den Punkt bringen. Sie soll aber zudem so weit gefasst sein, dass sie noch das Gebetsverständnis aller Religionen umgreifen kann. Wir gehen ja davon aus, dass auch Buddhisten, Muslime oder Angehörige von Naturreligionen beten. Eine dezidiert christlich-theologische Definition des Gebets bereits an dieser Stelle würde zu viele potenzielle Einsichten verschließen und den Dialog mit Anders- oder Nichtglaubenden verunmöglichen. Die gesuchte Definition muss also eine religionswissenschaftliche sein.

      Natürlich: Eine alle überzeugende und alles umfassende Definition gibt es nicht. Carl Heinz Ratschow schlägt folgende Bestimmung vor: Gebet ist das »dialogische Gegenüber zu einem angesprochenen höheren Wesen« (Carl Heinz Ratschow 1984, 31). Damit setzt Ratschow v.a. auf zwei Elemente: Die Situation einer Begegnung des Menschen mit dem Göttlichen und deren kommunikative, dialogische Dimension. Beide Aspekte scheinen auch mir die unerlässlichen Eckpunkte eines Begriffs des Gebets zu sein. Jedoch möchte ich beide Formulierungen leicht abwandeln:

      – Die Begriffe »dialogisch« und »angesprochen« betonen m.E. zu stark die Sprache. Die Möglichkeit nonverbaler Kommunikation, ja nonverbalen Kontakts mit dem Göttlichen, wie sie etwa in der Meditation im Vordergrund steht, wird von Ratschow zumindest nicht ausdrücklich gemacht, wenn nicht gar ausgeschlossen.

      – Das »höhere Wesen« impliziert bereits die Annahme einer »Personalität« des Gegenübers. Ob das im Buddhismus oder in anderen fernöstlichen Religionen so akzeptiert würde, wage ich zu bezweifeln. Mir ist daher an dieser Stelle eine offenere Formulierung lieber.

      Daher lautet mein Vorschlag einer Definition: Gebet ist die »bewusste ganzheitliche Begegnung mit dem Geheimnis«. Kurz einige Erläuterungen zu den verwendeten Elementen:

      – bewusst: Gebet ist eine vom Menschen aktiv und zielgerichtet gesteuerte Handlung. Sie muss daher im Betenden bewusst sein und absichtlich geschehen – nicht unbedingt im Moment des Gebets (da ist sie idealerweise unbewusst – der Betende lässt sich fallen), wohl aber vor- und nachher in Vorbereitung bzw. Erinnerung.

      – ganzheitlich: Gebet ist keine distanzierte Analyse, sondern ein Sich-hineinnehmen-Lassen in eine Beziehung. Daher kann es sich nicht allein im Wort oder im Denken vollziehen, sondern umfasst notwendig Gefühl und leibhaftigen Ausdruck. Beten geschieht ganzheitlich.

      – Begegnung: In Differenz zu Ratschow verstehe ich Beten nicht allein als Wortgeschehen. Mit Ratschow betone ich den Begegnungscharakter des Betens. Wäre Beten reine Selbstbespiegelung oder pures Selbstgespräch, würde ihm ein entscheidendes Moment verloren gehen.

      – mit dem Geheimnis: Der Begriff des Geheimnisses scheint mir für alle Religionen akzeptabel. Er lässt viel Spielraum, denn er kann das apersonale Göttliche oder den personalen Gott meinen. Statt sich bereits bei der Gebetsdefinition auf die Streitfrage »personal oder apersonal?« einzulassen, wird das Gemeinsame aller Religionen betont: dass sie den Sinn für das Geheimnis der Welt und des Lebens wecken und pflegen wollen. Zugleich wird mit der Betonung des Geheimnishaften einer ritualistisch entleerten Interpretation des Betens der Boden entzogen. Nicht der Mund muss beten, sondern das Herz.

       1.3 Das »Fach«: Theologie der Spiritualität

      In welchem Zusammenhang steht die Frage nach der Theologie des Gebets? In welchem theologischen »Fach« stellen wir sie? Das Gebet ist in allen Religionen Teil der Spiritualität. Nun gibt es an manchen theologischen Fakultäten wie z.B. in Wien einen eigenen Lehrstuhl für »Theologie der Spiritualität« oder sogar eigene (Master- bzw. Lizentiats-)Studiengänge wie in Münster oder Nijmegen, Rom oder Chicago. Meist aber wird dieser spezifische Zugang einem der anderen theologischen Fächer zugeschlagen. Zumindest gilt damit die theologische Reflexion der Spiritualität fast an allen Fakultäten als ein eigenständiger Zugang mit einzelnen Lehrveranstaltungen und einer eigenen Abteilung in der Bibliothek. Im deutschen Sprachraum haben sich daher die betreffenden TheologInnen aller Konfessionen, die aus unterschiedlichsten theologischen Disziplinen stammen, zur »Arbeitsgemeinschaft Theologie der Spiritualität« zusammengeschlossen und treffen sich regelmäßig zu Tagungen.

      Was meint der Begriff Spiritualität? Der Begriff wurde erst in den 1960er und 1970er Jahren aus dem Französischen ins Deutsche und in andere Sprachen übertragen. Sein Gebrauch im nicht frankophonen Sprachraum ist mithin noch relativ jung. Historisch steht die weltweite Einführung des Begriffs Spiritualität für den kirchlichen Aufbruch in der Zeit des II. Vatikanischen Konzils: Das Konzil hat »spiritualité« dynamisiert und globalisiert.

      Etymologisch steht am Ursprung die lateinische Wurzel »spiritualitas«, die bereits in frühchristlichen Schriften verwendet wird – erstmals im ersten Clemensbrief (als Adverb »spiritualiter«) und dann gehäuft bei Tertullian. »Spiritualitas« ist ihrerseits vom Adjektiv »spiritualis« abgeleitet – einem frühchristlichen Neologismus zur Übersetzung des neutestamentlichen Begriffs »πνευματικ

ς«, geistlich (fünfzehnmal bei Paulus, bes. 1 Kor 2,10–3,3; fünfmal in Eph, Kol und zweimal in 1 Petr). Diesen wiederum setzt Paulus den Begriff σαρκικ
ς, fleischlich, entgegen, was die theologische Verwendung des Adjektivs wie des Substantivs prägt: Fleischlich ist jemand, der sich völlig im Diesseits verschließt, spirituell der, der sich dem Wirken des Heiligen Geistes öffnet.

      In den letzten beiden Jahrzehnten ist der Begriff »Spiritualität« ein Modewort geworden – mit dem Nachteil, dass er sehr schillernd verwendet wird. Für seine Definition möchte