Michael Rosenberger

Im Geheimnis geborgen


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θεοόγος ε
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      2. Jenseits von Selbstsucht und Selbstflucht

      Beten als Sich-Hineinstellen in das Geheimnis des Lebens (Anthropologie des Gebets)

      »Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

      ich träte aus meiner Zelle

      gelassen und heiter und fest

      wie ein Gutsherr aus seinem Schloss.

      Wer bin ich? Sie sagen mir oft,

      ich spräche mit meinen Bewachern

      frei und freundlich und klar,

      als hätte ich zu gebieten.

      Wer bin ich? Sie sagen mir auch,

      ich trüge die Tage des Unglücks

      gleichmütig, lächelnd und stolz,

      wie einer, der Siegen gewohnt ist.

      Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?

      Oder bin ich das, was ich selbst von mir weiß?

      Unruhig, sehnsüchtig, krank, wie ein Vogel im Käfig,

      ringend nach Lebensatem, als würgte mir einer die Kehle,

      hungernd nach Farben, nach Blumen, nach Vogelstimmen,

      dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,

      zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,

      umgetrieben vom Warten auf große Dinge,

      ohnmächtig bangend um Freunde in endloser Ferne,

      müde und leer zum Beten, zum Denken, zum Schaffen,

      matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

      Wer bin ich? Der oder jener?

      Bin ich denn heute dieser und morgen ein andrer?

      Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler

      und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?

      Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,

      das in Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

      Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.

      Wer ich auch bin, du kennst mich, dein bin ich, o Gott!

       (Dietrich Bonhoeffer 1980, Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft, Gütersloh, 179)

      Mit diesem berühmten und packenden Gedicht führt uns der Theologe Dietrich Bonhoeffer in die Abgründe des Zweifelns und Fragens hinein, in denen er sich im Juli 1944 während seiner Haft befindet. Die Wahrnehmung seiner Angehörigen und Freunde, die ihn im Gefängnis in Berlin besuchen, steht seiner eigenen Wahrnehmung so fern, wie man es sich nur vorstellen kann. »Wer bin ich?« Immer wieder stellt Bonhoeffer die Frage nach seiner Identität. Erst im allerletzten Satz wird das Gedicht zum Gebet – an das Du Gottes gerichtet. Mit größter Vorsicht tastet sich Bonhoeffer an den geheimnisvollen Gott heran. Und doch legt er die Antwort auf die Frage nach dem Geheimnis der eigenen Person am Ende sehr bewusst und entschlossen in das größere, umfassendere Geheimnis Gottes hinein. Das Beten hilft ihm, sich dem Geheimnis anzuvertrauen und die lebensbedrohlichen Ungewissheiten der Gegenwart auszuhalten.

      Kann Beten helfen, sich selbst zu erkennen und zu finden? Kann es den Betenden mit allen Unsicherheiten des eigenen Lebens versöhnen, obgleich diese bestehen bleiben? Was sagt das Gebet über den (betenden) Menschen? Diese Frage soll hier zunächst unabhängig davon beantwortet werden, ob es Gott gibt oder ob er nur eine Chiffre, ein literarisches Stilmittel oder eine psychologische Hilfskonstruktion ist. Denn selbst wenn dem so wäre, würde das Beten etwas über den Menschen und seine existenziellen Herausforderungen sagen, und auch über seine Versuche, mit diesen umzugehen. Selbst dann könnte Beten hilfreich sein zur Bewältigung der eigenen Existenz.

      Das Formalobjekt dieses Kapitels ist also die Philosophie, näherhin die philosophische Anthropologie. Weitgehend rezipieren wir Positionen von (Religions-)PhilosophInnen. Wo darüber hinaus Anregungen von TheologInnen aufgegriffen werden, sind es solche, die per se keine dezidiert theologische Imprägnierung tragen. Die hier dargelegten Ausführungen sollten also auch Nichtglaubenden relativ plausibel sein.

       2.1 Beten – sich seine Identität schenken lassen. Entdeckungen der Analytischen (Sprach-)Philosophie

      Eine wichtige Inspirationsquelle der philosophischen Annäherung an das Phänomen des Betens ist die Analytische Philosophie. Entwickelt am Beginn des 20. Jh., sucht sie die Lösung philosophischer Probleme durch die Analyse des alltäglichen Sprachgebrauchs philosophischer Schlüsselbegriffe. Sie entwickelt sich zunächst zu einer eigenen »Schule«, später zu einer eher pluriformen Richtung der Philosophie, die schließlich als Methode in zahlreiche philosophische Ansätze Eingang gefunden hat. Im Gegensatz zur vorwiegend kontinentaleuropäischen Existenzphilosophie findet sie ihren Verbreitungsraum hauptsächlich im angloamerikanischen Bereich. Auch ihre deutschsprachigen Vertreter wie Rudolf Carnap und Ludwig Wittgenstein wandern dorthin aus. Ihre Begründer sind George Edward Moore (1873 London–1958 Cambridge) und Bertrand Russell (1872 Trellech, Wales–1970 Penrhyndeudraeth, Wales). Ziel ist nicht wie in der zeitgleich entstehenden Phänomenologie die Etablierung von Wahrheiten, sondern die Analyse von Begriffen. Dies führt zur »linguistischen Wende«, d.h. zur Beschäftigung mit der Sprache als zentralem Ansatz. Treffend charakterisiert das eine programmatische Äußerung von John Langshaw Austin (1911 Lancaster–1960 Oxford): Es gehe um die Analyse der Alltagssprache unter der Frage, »was wir wann sagen würden und … warum, und was wir damit meinen« (John Langshaw Austin 1975, 185). Die Sprachanalyse könne damit als »linguistische Phänomenologie« (John Langshaw Austin 1975, 182) bezeichnet werden, denn in der Sprache schienen die Phänomene der Wirklichkeit auf.

      Bezogen auf unser Thema fragt die Analytische Philosophie v.a.: Was meinen Menschen, wenn sie beten, d.h. einen Gott oder eine göttliche Sphäre ansprechen? Welchen Gehalt, welche Bedeutung, welchen Sinn erschließt derartiges Reden? Welche Potenziale stecken darin? Fakt ist, dass viele Menschen beten – es kann also nicht sein, dass das völlig sinnlos ist. Umso mehr muss aber kritisch gefragt werden, worin denn die wirkliche Bedeutung