Michael Rosenberger

Im Geheimnis geborgen


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Sprachraum hat der Religionsphilosoph Richard Schaeffler mit seiner »Kleine[n] Sprachlehre des Gebets« von 1988 wohl die umfassendste Anwendung sprachanalytischer Kategorien auf das Gebet präsentiert. Schaeffler gründet seine Überlegungen ganz »klassisch« auf die Sprechakttheorie. Nach ihr sind sprachliche Äußerungen Handlungen, die jemand vollzieht, indem er einen Satz äußert. Sprache ist Interaktion – sie bewirkt etwas.3 Was also bewirkt das Gebet? In seiner Beantwortung orientiert sich Schaeffler an dem jüdischen Philosophen Herrmann Cohen (1842 Coswig–1918 Berlin), der Kants Religionsanalyse weiterführt und zwei wesentliche Äußerungen des Gebets sieht:

      a) Beten heißt, den Namen (Gottes) anrufen und sich so Identität schenken lassen: Im Anrufen eines Namens erinnert sich der Rufende an die Identität des Angerufenen und kann diesem begegnen. Er erinnert sich damit aber zugleich an seine eigene Identität, die wesentlich von der Beziehung zu dem Angerufenen geprägt ist. So kann er sich diese neu aneignen in Kontinuität und Differenz: Er bleibt derselbe, indem er sich wandelt und die alte Beziehung neu aufnimmt. Gerade wenn sich zwei Menschen begegnen und mit Namen ansprechen, die sich jahrelang nicht gesehen haben, kann man das intensiv erleben und beobachten.

      Genau das geschieht aber beim Anrufen nicht nur des Namens eines Mitmenschen, sondern auch des Namens Gottes: Im Gebet bindet der Mensch seine Identität und Kontinuität an den ewigen, stets da seienden Gott (Ex 3,15), dessen »uralte Taten« immer neu aufleuchten (so der Text der Oration zur Exodus-Lesung in der Osternacht). Diese Identität wird ihm geschenkt und garantiert. Er braucht keine Angst darum haben, dass sie verloren gehen könnte. Denn Gott wird als der angerufen, »dessen Treue allein sicherstellt, dass unsere Vergangenheit bei ihm … unverloren ist und dass wir auf dem Wege in unsere Zukunft unsere Identität nicht verlieren« (Richard Schaeffler 1988, 30). Bei Gott bleibt der Mensch in Erinnerung, er geht nicht verloren.

      b) Beten heißt erzählen und so (diachron) die eigene Lebensgeschichte ordnen und (synchron) die Beziehung zum Gegenüber stärken: Im Beten bringt der Betende erzählend sein Leben vor Gott. Solches Erzählen hat nach dem US-amerikanischen Philosophen Arthur Coleman Danto (*1924 Ann Arbor, MI) die Funktion, die Gegenwart im Blick auf die Vergangenheit zu organisieren und umgekehrt die Vergangenheit im Blick auf die Gegenwart. Erzählen ordnet, deutet und klärt. Der Blick des Betenden auf die in der Bibel erzählte Heilsgeschichte klärt seine eigene, ganz persönliche Lebensgeschichte, indem sich Analogien auftun und umfassendere Perspektiven sowie durchgehende Linien sichtbar werden. Umgekehrt lässt seine Lebensgeschichte viele Begebenheiten der Heilsgeschichte leichter verstehen (diachron).

      Erzählen verbindet aber auch die Lebensgeschichten der kommunizierenden Personen: Das »Weißt du noch?« dient der Vergewisserung und Stärkung ihrer Beziehung (synchron). Ob lang Verheiratete am Hochzeitstag nochmals von ihrer Hochzeit erzählen oder Eltern ihren Kindern Begebenheiten des eigenen Lebens – immer geht es darum, die kollektive Identität zu stärken und die Gemeinschaft zu vertiefen. Geteilte Erzählungen schweißen zusammen.

      Beide Funktionen findet Schaeffler auch im Gebet verwirklicht. Diachron betrachtet wird Gott angerufen als »der, dessen vergangene Taten der Mensch so erzählen kann, dass er dadurch für seine eigene Lebensgeschichte Deutung und Maßstab empfängt … und dem der Mensch seine eigenen Taten und Leiden so erzählen kann, dass sie sich dadurch zu einem ›geraden‹ Weg zusammenfügen« (Richard Schaeffler 1988, 69). Und synchron stärkt und bereichert das Erzählen vor Gott die Beziehung zu ihm.

      Aus Cohens und Schaefflers Analyse ergeben sich – noch immer unabhängig davon, ob es Gott gibt – zwei wesentliche Forderungen an gelingendes Beten: Es muss erstens ein angemessenes Anrufen des Namens vermitteln und zweitens erzählen. Beides ist nicht selbstverständlich.

      – Viele der noch immer im kirchlichen Gebet verwendeten Gottesnamen treffen nicht das gesunde Empfinden (den »sensus fidei«) der Glaubenden. Sie verunmöglichen die religiöse Identitätsbildung mehr, als dass sie sie fördern. Hier könnte der Islam mit seiner Sammlung der »99 Gottesnamen«, die in Wahrheit weit über 100 sind, einen ehrfürchtigeren und aufmerksameren Umgang mit der Gottesanrede lehren. Und das Judentum, das seinen (einzigen) Gottesnamen nur schreibt und liest, aber nicht ausspricht, könnte die Kostbarkeit unterstreichen, die ein treffender Name für Gott bedeutet. Er ist wie der Kosename, den Geliebte einander geben. Er enthält eine Kraft, die Berge zu versetzen weiß.

      – Auch das Erzählen ist bei weitem nicht immer die Grundmatrix christlichen Betens. Obwohl die sog. Anamnese des liturgischen Betens hier einen guten Anhaltspunkt böte, bleiben die narrativen Elemente des Gebets oft abstrakt und blass. Zudem wird oft nur von der allgemeinen Heilsgeschichte erzählt, nicht aber von der eigenen Lebensgeschichte – so als wäre das eigene Leben kein Teil der Heilsgeschichte. Dabei wäre im Sinne Schaefflers gerade die gelungene Verbindung beider das befreiende und eröffnende Element des Gebets.

       2.2 Beten – sich selbst und die Welt immer ehrlicher wahr-nehmen. Erkenntnistheorie des Gebets

      »Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt« (Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus 5.6). Mit diesem Satz umreißt Ludwig Wittgenstein eine wichtige Einsicht: Was wir nicht in Worte fassen können, bleibt uns Menschen unfassbar. Wir können es nicht begreifen. Das gilt für Sprachhandlungen aller Art. Auch für das Beten. Beten als Sprechen hat eine Potenz der Welteröffnung – was treffend ins Gebet genommen wird, erschließt sich dem Betenden. Beten als Sprechen hat aber auch eine Potenz der Weltverschließung – denn wo Gebetsformulierungen der Wirklichkeit nicht angemessen sind, wo sie die eigene Lebens- und Glaubenserfahrung nicht treffen, blockieren sie den Zugang zur Wirklichkeit. Diese Welteröffnung oder Welterschließung ist dabei keine rein intellektuelle Frage, wie Anselm Grün 1979 in seinem Büchlein »Gebet und Selbsterkenntnis« betont. Vielmehr führe Erkenntnis zur Heilung. Denn einerseits zwinge und helfe das Gebet zur Selbsterkenntnis im Sinne einer kritischen Diagnose. Es zwinge zur Selbsterkenntnis, weil der Mensch nur beten könne, wenn er sich selbst ehrlich wahr-nehme; und es helfe zur Selbsterkenntnis, weil es von jeglicher Selbstbespiegelung befreie, indem es (etwa im Lesen eines Psalms) die Außenperspektive Dritter einnehmen lasse. Andererseits führe das Gebet zur Heilung, zur Therapie des Selbst – durch positive Gedanken, die Hoffnung, Zuversicht und Bestärkung wecken.

      So recht Grün mit seiner Verbindung von Erkenntnis und Heilung, Diagnose und Therapie hat, so einseitig ist seine optimistische Einschätzung, das Gebet werde automatisch Erkenntnis und Heilung schenken. Diese Aussage wird man doch eher als Appell denn als Feststellung lesen müssen. Umso mehr stellt sich dann aber die Frage: Was sind die Kriterien dafür, dass das Gebet tatsächlich Welt öffnet und nicht verschließt, dass es erkennen lässt und heilt und nicht blind und krank macht?

      In einer ersten groben Annäherung ließe sich vielleicht sagen: Gebet muss echter Dialog sein, Hören und Reden umfassen. Wer beim Gebet Monologe führt, wird kaum zu Erkenntnis und Heilung gelangen. Wiederum sei betont, dass dieses Hören auch dann möglich wäre, wenn es Gott nicht gäbe. Denn jedes Gebet enthält überindividuelle Elemente, die von außen kommen – Floskeln und Schlüsselbegriffe aus der eigenen religiösen Tradition; Bibelverse oder Anspielungen auf solche; auswendig gelernte Gebete; überkommene Gesten und Rituale usw. All das sind Elemente, die ein Gegenüber repräsentieren und Erfahrungen Unbeteiligter ins Spiel bringen, auf die Betende hören können. Schon psychologisch betrachtet ist damit ein Gebet potenziell mehr als ein Selbstgespräch (das nämlich, wenn es wirklich ein Selbstgespräch ist, all diese Repräsentationen der Tradition nicht oder höchstens in Spuren enthält).

      Die entscheidende Aufgabe des Betenden wird es aber bleiben, diese Repräsentationen eines gemeinschaftlichen Gegenübers auch wahrzunehmen und zu verinnerlichen. Beten ermöglicht das Hinhören, erzwingt es aber nicht. Das betont Karl Rahner bereits 1949 in seiner großartigen Abhandlung über das Gebet. Beten, so Rahner, kann auch von der Selbsterkenntnis wegführen. Der Mensch kann durch Beten vor sich selbst fliehen, er kann die Tiefen seines Herzens verschütten, auch als treuer und braver Christ. Denn der äußerlich vollzogene Glaube kann eine Fassade sein,