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Milieusensible Pastoral


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viele war die Begegnung mit solchen Erkenntnissen in hohem Maße überfordernd. Ein gewisser Aktivismus war oft die erste Folge und er ließ sich von der Frage stressen: „Wie können wir denn alle erreichen?“ Manche Kreise diskutieren aus, welche Rolle soziale Empirie überhaupt für pastoralplanerische Prozesse spielen kann. Wieder andere verweigerten generell, dass die Sinus-Studie, wie sie genannt wurde, korrekt erforscht sei bzw. ihre Ergebnisse irgendeine Relevanz haben könnten. Man habe nur 170 Leute befragt, und die Soziologen hinter der Studie seien ja bloß Marktforscher. Richtige Sozialforschung sei quantitativ, alles andere reine Interpretation. Die theologisch-substantielle Arbeit, die über bloße Rezeption hinausgeht, formiert sich erst in diesen Monaten. Und aus manchen kirchlichen Kreisen ist schon zu hören, dass milieusensible Pastoral schon deswegen zum Scheitern verurteilt sei, weil es gar kein Personal gäbe, das hierfür motiviert und ausgebildet sei.

      Natürlich gab und gibt es auch die Nicht-Überforderten. Diese sahen in dem hier gebotenen Absatz endlich eine Chance, aus der intuitiv bereits vorher stark gespürten Ahnung einer kulturellen Verengung herauszukommen. Es war besonders die Gemeindetheologie, die in den Fokus der Bemühungen um milieusensible Pastoral stand. Diese Priorität hatte durchaus die Logik der meisten diözesanen Strukturreformen hinter sich, die ja ebenfalls vor allem um das gedeihliche Leben der Gemeinden vor Ort im nun großen pastoralen Raum bemüht sind. Mehr und mehr konnten die einschlägigen Milieustudien (auch sie wurden mehr und mehr) davon überzeugen, dass man das lokale Kirchesein nicht an den Menschen vor Ort vorbeientwickeln sollte. Und mindestens als Seh-Hilfe sind die ‚Sozialen Milieus‘ heute so eingeführt und bekannt, dass man sich fragt, wie man überhaupt ohne solche Instrumente professionell sozialräumliche Pastoral verantworten soll. Wie viele Aus- und Fortbildungen in den deutschen Diözesen zu diesem Anliegen in den letzten Jahren durchgeführt wurden, weiß niemand. Aber man kann sicher sagen, dass die schiere Anzahl an Veranstaltungen von keinem einzigen Fortbildungsinhalt der letzten Jahrzehnte erreicht worden ist. Kaum ein Instrument hat eine derartige Felddurchdringung erreicht wie dieses. Und es hat der gemeindetheologischen und- praktischen Wirklichkeit gutgetan.

      Allerdings: Die Bekanntheit des Ansatzes ist heute so groß, dass viele nach neuen Inhalten Ausschau halten. Immer häufiger ist zu hören: „Nicht schon wieder Milieus! Die haben wir doch jetzt wirklich genug durchgekaut.“ Hinter solchen Aussagen steckt eine Mehrzahl an Motiven: z. B. die Müdigkeit, sich immer wieder dieselben unbequemen (und unbeantwortbaren?) Fragen zu stellen; die Lust auf Neuigkeiten; die Ratlosigkeit, wie man aus der Rezeption in die Umsetzung kommt, usw. Vor allem von der gemeindlichen Ebene wird Überforderung gemeldet, wenn es konkret werden soll: Man könne jetzt erheblich besser beschreiben, was zu ändern wäre und woran es liegt; man habe auch eine gemeinsame Sprache gelernt und könne sich in der Analyse gut bewegen. Was aber jetzt wie und von wem zu tun sei, das sei unklar und lähme den ‚Betrieb‘.

      Ein Letztes: Außerdem tauchen mit neuen Stichworten neue interessante Themen auf, die man jetzt erst einmal eingehender studieren müsse: fresh expressions of church, Lokale Kirchenentwicklung, Organisationsentwicklung, die Erfahrungen von Poitiers, Gemeinsames Priestertum und manches mehr.

      Das folgende Buch hält sich in genau diese Fragen hinein. In dreierlei Hinsicht soll frische Ware geliefert werden. Zum einen richten wir den Blick weg von der gemeindlichen hin zur organisatorischen Ebene von Pastoral. Wir haben Verantwortliche aus Organisationen befragt, wie sie zu dem Konzept milieusensibler Pastoral stehen und welche Umsetzungserfahrungen sie machen. Die einhellige Antwort: Bei uns geht es schon lange nicht mehr um die Frage, ob wir solches Wissen um differenzierte Pluralität einsetzen. Das ist in unseren Branchen selbstverständlich. Wir fragen ausschließlich nach dem Wie.

      Und dieses ‚Wie‘ gibt es – und wie! Das ist der zweite Beitrag des Buches. Die folgenden Berichte sind sämtlich aus der Praxis und sie offenbaren das große Potenzial einer segmentierten Kommunikation innerhalb kirchenbezogener Ansprache. Man bekommt zahlreiche Ideen für Umsetzungen. Vor allem aber begegnet man einem Geist der Tatkraft, der Freude an Unternehmungen und des Willens zum Weiterkommen.

      Die im Buch begehbaren Praxisfelder und erfahrbaren Methoden sind diese: die Militärseelsorge, die Citypastoral, die Jugendverbandsarbeit, die Public Relations einer Diözese, die Pastoralplanung (katholisch wie evangelisch), die Fort- und Weiterbildung als Sparten kirchlicher Personalentwicklung, die Hochschulseelsorge. Wer diese Berichte liest, begibt sich in die Praxis der pastoralen Differenzierung: Liturgiestile, die sonntäglich wechseln; Fortbildungsroutinen, die passgenaue Fortbildungsangebote erfordern; Entwicklung von verschiedenen Gemeindeprofilen im urbanen Raum; waghalsige Adressierungen junger Waghalsiger; Spendenakquise je nach Spender; Milieuverteilung nach Dienstgradgruppen usw.

      Viele weitere Praxisfelder hätten weitere Berichte liefern können: so etwa die Arbeit der Hilfswerke oder die derzeit stark vorangetriebene Entwicklung von Bistumsmagazinen. Wir mussten uns beschränken. Deutlich wird aber: Entgegen einer eventuell manifesten Übersättigung auf der Gemeindeseite kann und will die Organisationsseite der Kirche nicht auf das für sie wertvolle Instrument der Milieuforschung verzichten. Vielleicht kann die Lektüre des Buches dazu beitragen, wechselseitige Lernprozesse beider ‚Seiten‘ zu stimulieren.

      Ein drittes Ziel des Bandes ist noch nachzutragen: die Beförderung des theologischen Diskurses. Die Praxisberichte werden eingerahmt von einer theologischen Reflexion zu milieusensibler Pastoral und einer Bibliografie zur enormen Menge an verfügbarer Literatur zum Thema. Prof. Heinzpeter Hempelmann, ein wichtiger Promotor des Milieuansatzes im evangelischen Raum, zeigt in seiner Reflexion, dass es heute darum geht, polyperspektivisch denken zu lernen. Wir bewegen uns kulturell keineswegs in der Postmoderne, sondern das Ineinander von prämodernen, modernen und postmodernen Wirklichkeitszugängen bildet den typischen Zustand ab. Eine Theologie und eine Pastoral, die hier auf der Höhe sein wollen, müssen sich selbst im Plural verstehen und sehen lernen. Vorzügliches Hilfsmittel dazu: die Theorie sozialer Milieus. Ein ebenso vorzügliches Hilfsmittel für alle, die dies intensiver bedenken wollen, ist die Bibliografie von Caroline Wolanski. Hier wird erstmals auf einen Blick nachschlagbar, was man zum Thema wissen kann. Und da man als Christ weiß, dass nichts praktischer ist als eine gute Theorie, darf auch dieser Beitrag nicht fehlen.

      Unser Dank geht vor allem an die Autoren, die zum Teil unter erheblichen Mühen – neben dem täglichen Organisationsgeschäft – geschrieben haben. Niemand von ihnen musste lange gebeten werden. Die Bildrechte liegen bei den Autoren bzw. bei den Herausgebern. Dank auch an Herrn Thomas Häußner vom Echter-Verlag, der dem Ansatz milieusensibler Pastoral in Deutschland von Anfang an einen besonders komfortablen verlegerischen Platz verschafft hat.

      Bochum, im November 2012

       Matthias Sellmann/Caroline Wolanski

I

      Heinzpeter Hempelmann

      Das Kriterium der Milieusensibilität

      in Prozessen postmoderner

      Glaubenskommunikation

      1 Was heißt eigentlich „Postmoderne“?

      „Kommunikation“ des Evangeliums respektive des Glaubens ist für gegenwärtige evangelische Theologie1 zum Inbegriff der Schlüsselaufgabe von Kirchen und Christen in der gegenwärtigen Gesellschaft geworden. Er umfasst über die engere mediale Bedeutung hinaus neben dem Aspekt der Verkündigung und der theologischen Rechtfertigung auch die lebensweltliche Repräsentation des Evangeliums, das sich – als göttliches dawar – seine soziale Gestalt schafft und sucht.

      Die Aufgabe der Kommunikation des Glaubens ist aktuell insofern von besonderem Reiz, als das Abstraktum „der“ Gesellschaft heute noch weniger als früher ein empirisches Pendant hat. „Gesellschaft“ ist vielmehr aus der Perspektive der Lebensweltforschung Grenzbegriff und Rahmen einer nahezu unüberschaubaren Vielzahl von Mini-Gesellschaften, Lebenswelten, Milieus und Sub-Milieus, die innerhalb einer gedachten Gesellschaft existieren. Sozialwissenschaftlich haben wir es mit einer fragmentierten