Группа авторов

Milieusensible Pastoral


Скачать книгу

Ich halte aber auch diese Redeweise noch für verharmlosend und ein Stück weit irreführend. Die Gesellschaft, wie wir sie vorfinden, ist ja nicht einfach postmodern. Sie ist ja ebenso auch modern und prämodern. Es gibt in ihr mit Prämoderne, Moderne und Postmoderne drei Basismentalitäten, die nebeneinander existieren, sich begegnen, teilweise ineinanderliegen und sich auch in einem Verhältnis der Konkurrenz um Einfluss und Gestaltung der Lebensverhältnisse befinden können. Kombiniert man diese drei Mentalitäten mit dem klassischen, immer noch gültigen, nur dem Prozess gesellschaftlicher Ausdifferenzierung alleine nicht mehr genügenden Modell der sozialen Schichten, legt sich als Kombination von subjektiven (mentalen) Einstellungen und „objektiven“ (materiellen) Verhältnissen, Bildungsgraden, ein Milieu-Modell nahe, wie es etwa das Heidelberger Sinus-Institut in immer wieder aktualisierter Form vorlegt.

      „Postmodern“ ist unsere Gesellschaft also nur zum Teil. Paradox formuliert: Es gehört zur postmodernen Verfassung unserer Gesellschaft, dass sie eben nur teilweise postmodern geprägt ist. Die in den 90er Jahren noch vertretene These, wir lebten im Übergang von einer modernen zu einer spätmodernen bzw. postmodernen Gesellschaft,2 hat sich eben so nicht bestätigt und ist auch alsbald fallen gelassen worden. Die Vorstellung eines Epochenwandels von der Prämoderne über die Moderne bis zur Postmoderne führt nicht nur zu der aporetischen Frage, was denn wohl nach der Postmoderne komme, – sie entspricht vor allem nicht den gesellschaftlichen Realitäten. Wir finden heute neben Lebenswelten, die spezifisch postmodern geprägt sind, weite Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die sich modern verstehen, aber auch erstarkende, teilweise sehr dynamische Lebenswelten, die einen spezifisch prämodernen Charakter tragen. Ich schlage darum vor, von Moderne, Prämoderne und Postmoderne im Folgenden nicht als Epochenbezeichnungen zu sprechen, sondern als Mentalitäten, d.h. das ganze Verhalten leitenden, aber nicht primär bewussten, sondern intuitiven, kollektiven, die Alltagswirklichkeit bestimmenden Grundorientierungen.3

      Die Zustimmung zu dieser These setzt freilich eine genauere Kennzeichnung von prämodern, modern und postmodern voraus. Natürlich kann eine Definition von Moderne, Post- und Prämoderne nur konstruktivistisch sein. Es kann ja kaum beansprucht werden, eine Wesensdefinition der jeweiligen Basismentalitäten zu geben. Wir können aber Arbeitsdefinitionen vorschlagen. Auch wenn die Phänomenologie der Lebenswelt(en) sehr bunt und reich ist, schlage ich vor, mit einem philosophischen Begriff von Moderne, Postmoderne und Prämoderne zu arbeiten. Ich möchte ausgehen vom unterschiedlichen Wahrheitsdenken, auf das wir in modernen, postmodernen und prämodernen Zusammenhängen treffen, und behaupten, dass sich von diesem Gesichtspunkt her die drei Mentalitäten sinnvoll unterscheiden lassen und d.h. auch, dass von diesem philosophischen Begriff her auch die Phänomenologien der Lebenswelten organisch zugeordnet werden können:

Mentalität Prämoderne Moderne Postmoderne
Wahrheitsbegriff • Es gibt nur eine Wahrheit. • Wahrheit ist offenbar. • Man kann sagen, was die Wahrheit ist. • Insofern ist ein Ringen um die Wahrheit nicht nötig. • Es gibt nur eine Wahrheit. • Aber es gibt verschiedene Wahrheitsansprüche, die sich widersprechen. • Die Wahrheit ist nicht offenbar. • Wir müssen um die Wahrheit ringen. • Es gibt Wahrheit. • Es gibt nicht nur eine Wahrheit, sondern viele. • Jedes Individuum hat das Recht auf seine Wahrheit; jedes Subjekt ist sich seine Wahrheit. • Insofern ist ein Ringen um die Wahrheit unnötig und sinnlos.
Zentraler Wert Traditions-orientierung Kritische Rationalität Pluralität, Multioptionalität
Orientierung Das Ursprüngliche ist das Wahre.Die Orientierung am Herkömmlichen garantiert den Wahrheits-transfer. Immer neue Versuche und Widerlegungen ermöglichen Fortschritt und Verbesserung, schließlich Annäherung an die Wahrheit. Die Vielfalt ist die Wahrheit.Gefährlich ist jede Einengung und Beschränkung der Pluralität.
Diskriminierung als … Fundamentalismus Kritizismus, Skeptizismus Relativismus

      Alle drei Basismentalitäten generieren und bedeuten Lebenswelten, die sich je nach materiellen und Bildungsverhältnissen noch einmal ausdifferenzieren können. Jede Basismentalität folgt einer eigenen Logik, die auch zu Abgrenzungen gegenüber den jeweils anderen führt, die man nicht versteht, die einem fremd bleiben, die man nichtsdestotrotz – gemessen an dem eigenen Wahrheitsdenken und den sich aus ihm ergebenden Kriterien – für falsch hält und die man dementsprechend nur ablehnen kann. Das Ergebnis sind sehr weit- und tiefreichende Barrieren. Michael Ebertz nimmt einen Begriff aus der Ethnologie auf und spricht im Hinblick auf die Distinktionsgrenzen zwischen den Milieus von „Ekelschranken“4.

      Wie „postmodern“ gebraucht wird, ist natürlich allein eine Definitionsfrage, näherhin eine Frage der Zweckmäßigkeit:

      – Postmodern im Sinne der Titelformulierung wäre gerade das Gesamt des Mit- und Widereinander von moderner, prämoderner und postmoderner Mentalität und den zu ihnen gehörenden Milieus. Eine postmoderne Gesellschaft wäre eine, die sich durch die spezifische Unübersichtlichkeit auszeichnet.

      – Postmodern im oben definierten Sinne wäre dagegen nicht die gesamte Gesellschaft, sondern nur ein Teilmoment der Gesellschaft mit den entsprechenden Milieus.

      Um nicht Irritationen schon auf der terminologischen Ebene zu erzeugen, schlage ich vor, den Begriff „postmodern“ auf die durch einen Wahrheitspluralismus gekennzeichnete Basismentalität zu beschränken und das Gesamt unserer Gesellschaft mit ihrer irreduziblen Vielfalt von Wahrheitskonzeptionen als „nachmodern“ und postchristlich zu bezeichnen und insofern den Begriff „postmodern“ enger zu fassen.

      2 Glaubenskommunikation im nachmodernen,

      postchristlichen Horizont – Herausforderungen

      Wenn die hier nur skizzierten Rahmenbedingungen zutreffen, ergeben sich nahezu zwangsläufig die Herausforderungen, vor die sich eine – katholisch gesprochen – „missionarische Pastoral“ heute gestellt sieht:

      a) Wo alle Gewinner sind, verlieren Medaillen ihren Sinn

      Um ein aktuelles Bild aus der Welt des Sports zu gebrauchen: wo – aus Gründen der Gerechtigkeit etwa im Behindertensport, z.B. bei den Paralympics – sehr viele Klassen angeboten werden und dementsprechend viele Medaillen gewonnen werden können, da gibt es zwar immer mehr „Gerechtigkeit“, mit der man den individuellen Gegebenheiten der Startenden entspricht; da verlieren aber eben auch die Medaillen immer mehr an Wert. „Wo alle Gewinner sind, da verlieren Medaillen ihren Sinn.“ Erkenntnistheoretisch formuliert: Wo alle recht haben, da hat es keine Bedeutung mehr, recht zu haben. Wo jedes Individuum absolute Bedeutung hat und schon aus dem Grund das, was es denkt, sagt, vertritt, die Wahrheit, oder präziser: eine Wahrheit ist, das Prädikat „Wahrheit“ verdient, wo es demzufolge viele Wahrheiten gibt, da verliert die Wahrheit ihre Bedeutung. Das gilt im doppelten Sinne des Wortes: Da meint Wahrheit nicht mehr den einen, allen vorgegebenen Horizont, der den individuellen Wahrheitsansprüchen vorausliegt; da ist die eine Wahrheit pluralisiert zur Fülle individueller Wahrheiten. Diese meine individuelle Wahrheit bedeutet dann aber auch nichts mehr, außer für mich. Aus traditioneller Perspektive muss man dann freilich fragen: Was hat eine Wahrheit für eine Bedeutung, die bloß Wahrheit