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Deutschland trauert


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Lebenswenden praktizieren, ist unproblematisch, denn dabei bleiben diese in aller Regel unter sich. Immer öfter aber gibt es Situationen, in denen nicht nur christliche Konfessionen in mittlerweile eingeübter Ökumene gemeinsam Gottesdienst feiern, sondern das Zusammenwirken von Religionen im Rituellen und Gottesdienstlichen erwartet wird.1 Das kann im familiären Bereich u. a. Trauung und Begräbnis meinen, kann im schulischen Bereich z. B. bei Feiern zu Einschulungen oder Schulentlassungen zum Thema werden und ist mittlerweile eine Herausforderung für Trauerfeiern, die nach Großkatastrophen öffentlich begangen werden.

      Diese Trauerfeiern fallen aus dem vertrauten Rahmen der Liturgie,2 werden als „riskant“ empfunden,3 dürften aber mehr und mehr zu einer Normalität werden. Nicht nur das Verhältnis der Religionen zueinander, sondern auch das Zusammenwirken von Staat und Kirchen ist angesprochen. Gerade in diesen Gottesdiensten trifft aufeinander, was gesellschaftliches Zusammenleben ansonsten beeinflusst und prägt. Zudem zeigt sich angesichts einer Katastrophe: Eine Gesellschaft spürt, dass sie solche Formen der gemeinschaftlichen Feier braucht und sie aktiv entwickeln muss.

      Das Folgende gilt dem Neben- und Zueinander der Religionen und – was nicht vergessen werden darf – der Weltanschauungen. Das ist derzeit die Herausforderung: Wie stehen diese Rituale der Religionen zueinander, wo ergibt sich die Möglichkeit, wo geradezu eine Notwendigkeit zu Ritualen, die verschiedene Religionsgemeinschaften, aber auch Konfessionslose und Atheisten integrieren oder von ihnen gemeinsam verantwortet werden? Und welche Räume für gemeinschaftliches rituellgottesdienstliches Handeln lassen Liturgien der christlichen Kirchen zu, die bei Trauerfeiern nach Großkatastrophen bis heute die Hauptakteure sind?

      Für die Liturgiewissenschaft, die von ihrer Fachgeschichte her ursprünglich Gottesdienste innerhalb einer Religion oder Konfession analysiert,4 hat sich längst ein neues Aufgabenfeld aufgetan. Insbesondere ist an liturgische Feiern im öffentlichen Raum (Schule, Krankenhaus, Militär etc.) mit einer diffusen Gruppe von Teilnehmenden zu denken. Solche Feiern können interreligiöse Elemente enthalten oder als Feiern, in denen verschiedene Religionen zusammenwirken, konzipiert sein. Diese Liturgien folgen einer anderen „Grammatik“ als beispielsweise die Eucharistiefeier oder Tagzeitenliturgie in der Gemeinde. Das tradierte Repertoire von Liturgien mit seinen Normen kommt angesichts der Situation, der Teilnehmenden, der Einmaligkeit der Feier usw. an seine Grenze. Um die Trauerfeiern verstehen und reflektieren zu können, müssen neue Fragestellungen entwickelt, überkommene Untersuchungsansätze kritisch gesichtet und vor allem die theologischen Kriteriologien liturgischer Feiern angesichts veränderter empirischer Befunde diskutiert und weiterentwickelt werden. Für Trauerfeiern nach Großkatastrophen stellt sich mit besonderer Dringlichkeit die Frage, wie das Zusammenstehen der Gesellschaft in der Situation der Katastrophe und wie gemeinsame Trauer in ritueller Form ermöglicht werden können. Solche Feiern sind weniger unter den üblichen normativen als unter situativen Gesichtspunkten zu betrachten.5 Menschen sind radikal erschüttert, trauern, wollen ihre Verunsicherung und Verzweiflung klagend zum Ausdruck bringen, suchen Trost, Hoffnung und Perspektive. Sie verlangen nach Gemeinschaft, die schützt, stärkt und ermutigt. Die christlichen Kirchen mit ihrem Hoffnungs- und Trostpotenzial müssen aufgrund ihres diakonischen Anspruchs helfen. Sie haben in den vergangenen Jahren bereits reagiert und vorsichtig bislang rein christlichökumenische Gottesdienste für die Mitwirkung von Juden und Muslimen geöffnet.6 Bei der Vorbereitung dieser Feiern ist der Bezugspunkt das konkrete Ereignis. Die jeweilige Liturgie richtet sich an den Betroffenen aus, insbesondere den unmittelbaren Angehörigen. Die plurale Gesellschaft muss als Trauer-„Gemeinschaft“ wahrgenommen werden. Das lässt sich an der verbalen Sprache, aber ebenso an den unterschiedlichen nonverbalen Zeichensprachen ablesen. Zunehmend werden Angehörige anderer Religionen als aktiv Handelnde in diese Feiern einbezogen, ein deutliches Signal einer Öffnung in die Gesellschaft hinein. „Deutschland trauert“ – das wird immer mehr im umfassenden Wortsinne ernstgenommen.

      Was lässt sich angesichts einer jeweils extremen Trauersituation nach einer Katastrophe und mit Blick auf Teilnehmerinnen und Teilnehmer ganz unterschiedlicher Religionen und Weltanschauungen über solche Feiern anhand der bisherigen Praxis sagen? (Kap. 2) Gehört aus theologischer Perspektive Trauerfeiern die Zukunft, die nach dem sogenannten Assisi-Modell7 Religionen im Nebeneinander handeln lassen, dies aus Sorge, sonst die Bekenntnisse zu vermischen oder gegeneinander zu stellen? Oder eröffnen sich im Rahmen christlich verantworteter Wortgottesdienste gerade neue Möglichkeiten, andere Religionen einzubeziehen, eigene Texte verlesen und Gebete sprechen zu lassen bis hin zur Möglichkeit gemeinsamen Gebets, indem innerhalb einer Feier verschiedene Bekenntnisse akzeptiert werden?

      Das kirchliche Dokument „Tote begraben und Trauernde trösten“8 beschreibt, wie Ritus und Liturgie angesichts von Tod und Trauer gestaltet sein sollen, wenn die Toten nicht der Kirche angehört haben (s. u. 3.1). Was besagt das mit Blick auf das Handeln in Trauerfeiern nach Großkatastrophen? Die kirchliche Arbeitshilfe „Leitlinien für das Gebet bei Treffen von Christen, Juden und Muslimen“9 setzt sich mit Gebetszusammenkünften von Juden, Christen und Muslimen auseinander. Ist es wirklich ausgemacht, so muss die Theologie fragen, dass ein gemeinsames Gebet dabei nicht möglich ist? (3.2) Vom Neuen Testament her kann die breitere Perspektive aufgemacht werden, dass Liturgie in dieser Situation eine „Praxis der Barmherzigkeit“ ist (3.3). Dann allerdings diskutiert man Trauerfeiern nach Großkatastrophen in der pluralen Gesellschaft unter neuen Vorzeichen.

      Die These, die zugrunde gelegt wird, lautet, dass in genau dieser Situation der Katastrophe und des Leidens theologisch begründet ein Miteinander der Religionen im Gottesdienst möglich ist. Mit Blick auf die Kirchen und ihre Gottesdienste sind diese Trauerfeiern eine Art Nagelprobe für die Pluralismusfähigkeit der Kirchen und ihre liturgische Praxis in der säkularen Öffentlichkeit.10 Hier entscheidet sich, wie ernst es den Verantwortlichen ist, wenn von Liturgie mit diakonischer Bedeutung gesprochen wird.

       2. Befunde

      Die Trauerfeiern nach Katastrophen sind in Deutschland in den letzten Jahren auf eine gute Resonanz gestoßen und haben sich in problematischen Situationen bewährt. Der Journalist Matthias Dobrinski hat 2016 in der Süddeutschen Zeitung kommentiert, gerade im Zwecklosen liege „Sinn und Stärke des Trauerrituals“. Er fährt dann fort: „Ein Ritual bleibt ohne Fragen und Antwort, es urteilt und verurteilt nicht, es bildet eine Gemeinschaft, bei der die Zugehörigkeit nicht ausdiskutiert werden muss.“ Öffentliche Trauer sei deshalb „ein zutiefst menschlicher und zivilisierender Vorgang“. Er zählt die „Stunden der gemeinsamen Trauer zu den stärksten Momenten des Republikanismus, der Demokratie, der Zivilität in der Geschichte der Bundesrepublik.“11

      Dem widerspricht auch ein Positionspapier der Kommission „Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat“ der Partei Bündnis 90/ Die Grünen zur „Religions- und Weltanschauungspolitik“ nicht, das 2016 vorgelegt wurde.12 Es diskutiert das Verhältnis von Staat, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und fragt nach Veränderungsbedarf. Dabei kommen die Trauergottesdienste nach Großkatastrophen und ihre Rolle in der pluralen Gesellschaft zur Sprache. Sie werden wertgeschätzt, aber es wird zugleich Kritik geäußert:

      „Die Ausschließlichkeit, mit der der Staat bei solchen Anlässen Sinnstiftung an diese beiden Glaubensgemeinschaften delegiert, kann angesichts der ständig zunehmenden Anzahl von Nichtchristinnen und -christen in Deutschland keinen Bestand mehr haben. […] Das gegenwärtig deutliche Übergewicht an christlichen Inhalten und von kirchlichen Repräsentanten bei solchen Ritualen hat auch eine vereinnahmende Dimension, die religionsfreie oder andersgläubige Menschen – als Betrauerte und Trauernde – in ihrer Weise[,] zu trauern und Leid zu verarbeiten, ausgrenzt.“13

      Es wird deshalb eine öffentliche Debatte über diese Feiern angeregt, die allerdings bislang nicht stattgefunden hat.

      Folglich haben diese Feiern ihre Probleme, das weitere Nachdenken über sie ist unerlässlich. Überhaupt bedarf es in Deutschland einer breiteren gesellschaftlichen Diskussion über solche Rituale und Feiern im öffentlichen Raum. Trauer der Gesellschaft angesichts einer Katastrophe ist etwas höchst Sensibles und für das Zusammenleben von herausragender Bedeutung. Rückfragen betreffen Formen und Elemente, Rollen, Beteiligungsformen, Räume.