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Deutschland trauert


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institutionellen Kontext. Es geht vielmehr um eine kirchlich verantwortete Trauerfeier in einer Notsituation und in einer sich verändernden Gesellschaft mit je neuer Teilnehmergruppe. In einer extremen Ausnahmesituation helfen Menschen mit ritueller Erfahrung und einer sie tragenden Überlieferung – einer großen Erzählung – Trauernden, Verzweifelten, Gläubigen und Nichtgläubigen. Kirchliche Rituale oder einzelne Elemente dieses Rituals, die in dieser Situation Hilfe bieten können, kommen zur Anwendung. Man kann diese Zeit der Trauer mit Victor Turner als liminale Phase, als Phase des Durchgangs und Übergangs beschreiben,14 in der viele Gesetze außer Kraft gesetzt sind, darunter Gesetze der vertraut geordneten Liturgie. Es braucht eine Hilfestellung in dieser diffusen Situation, ein Geländer, an dem man sich festhalten kann auf dem Weg durch ein für Menschen schwieriges Terrain. Liturgie bietet sich mit ihrer diakonischen Qualität auch denen als Halt an, die diesen Halt sonst nicht suchen. Das funktioniert, weil solche liturgischen Rituale vielfältig deutbar und anschlussfähig sind. Das Licht einer Kerze kann Orientierung im Dunkeln geben, kann auf eine transzendente, wie auch immer geartete Hoffnung verweisen, kann Christus, das Licht, symbolisieren.15 Es ist für vielfältige Assoziationen offen und deshalb vielfältig lesbar. Aus solchen Riten und Elementen, die zum Grundrepertoire christlichen Gottesdienstes gehören, lebt eine Liturgie nach Großkatastrophen.

      Mit den folgenden Reflexionen soll auf einige Erkenntnisse und Einschätzungen aus der bisherigen Forschung zu diesen Trauerfeiern hingewiesen werden.16 Dabei werden Aspekte herausgegriffen, die besonders in der Diskussion stehen. Welche Feierform ist zum „Normalmodell“ geworden? Welche Räume werden genutzt? Mit welchen Teilnehmern ist zu rechnen? Und in welche rituellen Kontexte sind sie eingebunden? Im Weiteren soll dann der Versuch einer vorläufigen theologischen Einordnung unternommen werden.

      2.1 Der Wortgottesdienst als Grundmodell

      Analysiert man Trauerfeiern der vergangenen 20 Jahre auf der Basis von Berichten, Ablaufplänen, Fernsehmitschnitten, Gebets- und Predigttexten, so wird für Deutschland eine Grundform sichtbar, die sich sehr an kirchlichen Wortgottesdiensten (unterschiedlicher Kirchen) orientiert.17 Wiederkehrende Elemente sind die Verlesung biblischer Texte, Predigten, Fürbittgebet, Segensgebet. Zeichen, die immer wieder auftauchen, sind Licht- oder Kerzenriten, die unterschiedlich ausgeprägt sind und entsprechend verschiedene Rezeptionen zulassen.18 Dass Zeichen – wie beispielsweise Holzengel – überreicht werden, dass eine Performance in die Liturgie eingebaut wird usw., ist die Ausnahme.19 Eine große Bedeutung kommt in diesen Trauerfeiern der Musik zu. Regelmäßig begegnen instrumentale wie vokale Musik. In der Regel ist ein Chor beteiligt, weil gemeinsamer Gesang in dieser Situation für eine inhomogene Teilnehmergruppe schwierig ist.

      Man kann von einer bewährten Grundform mit einigen wiederkehrenden Elementen sprechen, die mittlerweile zu einer Ritualisierung innerhalb der Feiern geführt haben. Diese Grundform ist ausbaufähig, wie die Integration von Gebeten anderer Religionsgemeinschaften zeigt.

      Die Leitung solcher Gottesdienste liegt heute in der Hand von Geistlichen, Männern und Frauen unterschiedlicher christlicher Konfessionen. Zumeist handelt es sich um Vertreterinnen und Vertreter der jeweiligen Kirchenleitung. Sie sind durch liturgische Kleidung als Amts- und Rollenträger ausgewiesen und unterscheiden sich darin beispielsweise sowohl von anwesenden Notfallseelsorgerinnen und -seelsorgern, die ihre eigene Dienstkleidung tragen, als auch von den Politikerinnen und Politikern der in aller Regel folgenden staatlichen Trauerfeier. Über Kleidung, Sprache, Ritus, Gestus usw. werden kirchenamtliches, weiteres seelsorgliches und staatliches Handeln voneinander abgesetzt.20

      Eine Ausnahme sind bislang Trauerfeiern, die nicht das Miteinander, sondern das Nebeneinander der Trauernden und ihrer Religionsgemeinschaften betonen. Bei der Gedenkfeier in der Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche nach dem Anschlag auf den Weihnachtsmarkt auf dem Breitscheidplatz, die am 20. Dezember 2016 und damit am Tag nach dem Terrorakt stattfand, kamen die Religionsgemeinschaften im Nebeneinander zur Sprache.21 Das Gedenken entsprach eher dem Assisi-Modell, der Form eines durch Papst Johannes Paul II. initiierten Friedensgebets, in dem die Religionsgemeinschaften von Feier zu Feier immer mehr in ein Nebeneinander gebracht worden sind.22 Wo überwiegt bei einer solchen Anordnung der Feier das Nebeneinander, wo das Miteinander der Religionsgemeinschaften? Welche Form des Totengedenkens wird dem in dieser Situation entscheidenden Aspekt des Miteinanders gerecht? Es muss diskutiert werden, ob ein solches Modell für die Situation gemeinschaftlicher Trauer geeignet ist und ob sich nicht andere Modelle eher anbieten.23 Wie immer man sich entscheidet: Von der Lebenssituation her, die zur Sprache gebracht wird, aus der Perspektive der Betroffenen wie aus der Verantwortung der beteiligten Kirchen, die zu wirklicher Seel-Sorge aufgerufen sind, geht es um Erstrangiges.

      2.2 Kirchenräume als Heterotopien der Trauerfeiern

      Die Trauerfeiern sind in den letzten Jahren in aller Regel in Kirchenräumen durchgeführt worden. Eine Ausnahme war die Trauerfeier in Erfurt (2002) nach dem Amoklauf im Gutenberg-Gymnasium, die auf dem Domplatz und damit dort stattfand, wo Kirche und Stadt aneinandergrenzen. In Duisburg (2010) fand parallel zum Gottesdienst in einer Kirche eine Trauerfeier in einem Stadion statt. Kirchenräume – Kölner Dom, Münchener Frauenkirche, Dresdener Frauenkirche, Berliner Dom, Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche – „bieten in jedem Fall die Möglichkeit einer Beruhigung und Abstandgewinnung, der Transzendenz.“24 Sie sind Heterotopien der Gesellschaft: utopische Orte, Andersorte inmitten der Gesellschaft, die eine Geschichte jenseits des Alltags und somit von Tod und Terror erzählen. Die christlich-religiöse Nutzung im Umgang mit Leben und Tod hat Spuren hinterlassen. Es sind umbaute Räume mit einer u. a. durch Licht und Bildprogramme sowie durch religiöse Praxis geschaffenen Atmosphäre, die Beziehungsräume stiftet. Die Räume haben mehr Gewicht, als das erste Hinsehen vermuten lässt. Sie ermöglichen Miteinander und Zusammenrücken, Gemeinschaftserfahrung in Notlagen. Diesen Räumen wohnt eine eigene Ordnung inne, die im Gegensatz steht zur Un-Ordnung anderer Räume – gerade in dieser Situation der Bedrängnis. Deshalb sind Kirchenräume nicht beliebig gegen andere Räume austauschbar.

      Nach Michel Foucault versiegen die Träume in einer Zivilisation, wenn sie solche Heterotopien nicht kennt.25 Mit Blick auf die Orte der Trauerfeiern darf dieser Aspekt nicht vernachlässigt werden. Gerade solche öffentlichen Räume, die ja nicht nur Räume der Kirche, sondern, was nicht vergessen werden darf, der ganzen Gesellschaft sind,26 erzählen von einer anderen Wirklichkeit, die das grausam Erlebte übersteigt und dadurch Lebensmut und Perspektiven zusprechen kann. Sie sind „herausragende Orte der Kontrastierung des Alltäglichen“27 und damit des Schrecklichen der Katastrophe. Gerade in multireligiösen und säkularen Kontexten, so neuere Untersuchungen, besteht dafür eine besondere Sensibilität.28 Die Unterscheidung „gläubig“ – „ungläubig“ tritt hierbei zurück zugunsten einer Unterscheidung von Beheimateten und Suchenden, so Jörg Seip unter Rückgriff auf eine Aussage des tschechischen Theologen Tomáš Halík. „Sakrale Orte würden dann weniger bestimmt durch normative Trennungen und viel eher durch praktische Überschreitungen bzw. Übertretungen.“29

      Die Trauerfeiern in Köln (2015) und München (2016) bestätigen das. Juden und Muslime waren an den Feiern als Betende beteiligt. In Köln traten eine Muslima und ein Jude an den Ambo, um Fürbitten zu sprechen. In München beteten Vertreter beider Religionen und ein griechischorthodoxer Priester in einer Raumzone vor dem Altar. Der orthodoxe Geistliche verließ dafür sogar den Altarbereich. Wenn man analysiert, was im Raum geschah und was unterschwellig, wenn auch sicherlich unbewusst, vermittelt wurde, stellen sich Fragen: Wurde eine Grenze im Raum markiert? Wurde ein neuer Raum aufgemacht, in dem nun Juden, Christen und Muslime gemeinsam beteten? Geschah dies dann vor den Augen der Christen? Was bedeutete die gemeinsame Gebetsrichtung zum Altar hin? Und warum betete ein orthodoxer Geistlicher mit einem Juden und einer Muslima zusammen? Das sind Fragen an die Durchführung einer solchen Feier, nicht aber an die Entscheidung an und für sich, andere Religionen zu integrieren. So viel kann gesagt werden: Ein Raum im Raum entstand, den man als ausgrenzenden wie als schützenden Raum interpretieren konnte. Ausgrenzung, weil der Zutritt zum Altarbereich augenscheinlich vermieden werden sollte; Schutz, weil im Rahmen des christlichen Gottesdienstes ein neuer ritueller Raum geschaffen wurde, in dem im Angesicht Andersgläubiger, aber von deren Solidarität mitgetragen,