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Deutschland trauert


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wird wieder im letzten Absatz des Gebets deutlich, das mit den Worten beginnt: „Yet most of all grant us brotherhood, not only for this day but for all our years – a brotherhood not of words but of acts and deeds.“ Ob den Verfassern der Leitlinie Gesamtzusammenhang und Kontext des Gebets bewusst gewesen sind? Sie weisen das Gebet jedenfalls als einen Text aus, der sich in pluralen und multireligiösen Zusammenhängen bewährt hat und gleichsam als ein Modell solchen Betens anbietet.59

      3.3 „Praxis der Barmherzigkeit“ – im Ritual

      Kann es für solche Gebete und Gottesdienste, an denen Menschen unterschiedlicher Religionen beteiligt sind, eine weitgehende theologische, möglicherweise sogar eine biblische Grundlegung geben? Das Gleichnis vom barmherzigen Samariter oder dem Samariter mit seiner barmherzigen Tat (Lk 10,30–37) kommt in den Sinn.60 Ein Mensch ist auf dem Weg von Jerusalem nach Jericho. Das ist eine sehr unsichere Wüstengegend. Er wird überfallen, brutal misshandelt und liegen gelassen. Ein Priester und ein Levit gehen achtlos vorbei. Erst ein Samariter, im Israel seiner Zeit selbst eine umstrittene Figur, hilft. Er sieht den überfallenen Menschen und ist „im Innersten berührt“. François Bovon hat in seinem Lukaskommentar darauf hingewiesen, dass es sich um einen Begriff handele, der andernorts bei Lukas gebraucht werde, „um die Herablassung Gottes oder Christi auszusagen; hier bezeichnet es eine evangelische Verhaltensweise“61. Der Text gibt eine Antwort auf die Frage „Wer ist mein Nächster?“62 Zwei Ritualexperten, wenn man Priester und Levit so bezeichnen darf, gehen vorbei, ohne das, was sie im Ritual begangen und gefeiert haben, in der konkreten Situation am Nächsten umzusetzen. Sie sind, wie Bovon formuliert, „tot für die Gegenwart“63. Das ist eine scharfe Kritik an Priester und Levit, von denen jeder weiß, was ihr Tagewerk ist. Erst der Samariter handelt, und zwar an einem Menschen, über dessen Bekenntnis oder Weltsicht er nichts weiß. Er sieht sich in Beziehung zu dieser überfallenen Person. Der „Nächste“ ist ein „Beziehungsbegriff“,64 es geht um die Beziehung zum nahen Menschen schlechthin. Die Erzählung ist eine Verpflichtung der „Gläubigen zur Praxis der Barmherzigkeit“65. Als Kontext der Perikope sieht Bovon die Frage nach dem „Zugang zum ewigen Leben“66. Es folgt Lk 10,38–42, die Perikope von Maria und Martha, in der die Frage der Gottesliebe thematisiert wird. Die Perikope vom barmherzigen Samariter stellt die Nächstenliebe in den Mittelpunkt. Beide Perikopen gehören aber zusammen und kommentieren sich gegenseitig: Gottesliebe und Nächstenliebe sind die beiden Seiten ein- und derselben Medaille.

      Wenn man bereit ist, zuzugestehen, dass Hilfe für den Nächsten in ritueller Form und durch Liturgie erfolgen kann – Paul Michael Zulehner spricht von „Ritendiakonie“67 –, dann darf man Menschen in der Wüstenei der Moderne, die im übertragenen Sinne unter die Räuber gefallen sind, denen Schreckliches widerfahren ist, rituell nicht allein lassen. Patristik und Mittelalter sahen im Samariter ein Bild Jesu. Das verlangt umso mehr, Nächstenliebe radikal zu denken, und zwar nicht nur von der inneren Haltung her, sondern ebenso von den Formen her, in denen sie sich ereignet. „Im Innersten berührt“ zu sein, kann dann bedeuten, die eigenen Rituale und liturgischen Formen auf diese Situation in der Wüste hin zu öffnen. Die Voraussetzung ist, dass man der Liturgie eine diakonische Dimension zugesteht. Liturgie muss dann situationsgerecht vorbereitet und begangen werden. Auch wenn sich ein Grundmodell herausgebildet hat, bleiben diese Feiern ein großes Experimentierfeld, auf dem im Extremen die rituellen Kompetenzen und Möglichkeiten der Kirchen nachgefragt werden.

      Es handelt sich um ein Feld, über das die liturgietheologische Debatte noch längst nicht abgeschlossen ist und das wegen seiner hohen Komplexität und Außergewöhnlichkeit der Situation nicht durch enge Normen oder Vorgaben eingegrenzt werden darf. „Katastrophen sind agendarisch nicht bändigbar.“68 Gefragt sind theologische Denk- und liturgische Praxismodelle, die hinreichend Flexibilität zulassen, notwendig ist gerade hier die Suche nach neuen, besonders geeigneten Formen für die Trauerfeiern. Sie wird sich nicht beenden lassen, sondern mit Veränderungen in der Gesellschaft immer wieder neu aufgerufen werden müssen.

      Zu dieser Debatte tragen die Beiträge des vorliegenden Bandes bei. Sie sind in vier thematische Schwerpunkte aufgeteilt. Am Anfang stehen Berichte aus der Praxis bzw. ein Interview über die Praxis. Christiane Alt, Brigitte Benz und Markus Hoffmann beschreiben, wie an einer Schule und in einer Stadt sowie durch ein Luftfahrtunternehmen mit der Trauer und Erinnerung nach einer Katastrophe umgegangen worden ist. Ansgar Hense und Alexander Thumfart diskutieren öffentliche Trauerfeiern aus staatskirchenrechtlicher und politikwissenschaftlicher Perspektive. Mit Blick auf die Trauerpraxis erörtern Alexander Saberschinsky und Michael Meyer-Blanck das mögliche Neben- und Miteinander kirchlicher und staatlicher Trauerfeier. Liegt die Zukunft dieser Feiern im Multireligiösen? Dieser Frage gehen Winfried Haunerland, Jochen Arnold und Stephan Winter nach.

      1 Einige solcher Feiern sind jetzt beschrieben und dokumentiert in: Öffentliche Liturgien. Gottesdienste und Rituale im gesellschaftlichen Kontext, hg. v. J. Arnold u. a., Leipzig 2018 (gemeinsam gottesdienst gestalten 30).

      2 Vgl. dazu St. Winter, „Bloß nicht aus dem Rahmen fallen …“. Rituell-gottesdienstliches Framing als zentrale pastoralliturgische Herausforderung, in: HID 72 (2018), 185–194.

      3 Vgl. dazu K. Fechtner – Th. Klie, Riskante Liturgien. Zum Charakter und zur Bedeutung von Gottesdiensten in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, in: Riskante Liturgien – Gottesdienste in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit, hg. v. K. FechtnerTh. Klie, Stuttgart 2011, 7–19, hier 9: „Liturgie ist prinzipiell riskant und Gottesdienst gestalten und feiern ist ein gewagtes Unterfangen. Liturgie ist ja eingebettet in eine plurale und damit mehrdeutige Rezeptionssituation“. Es sei ungewiss, ob Liturgie gelinge oder nicht. Dennoch sei „das Risiko, das der Liturgie eignet, theologisch kein Manko, sondern Bedingung und Ausdruck dessen, was im Gottesdienst proklamiert, erbeten und erhofft wird.“

      4 Vgl. dazu G. Rouwhorst, Paradigmenverlagerungen in einer interdisziplinären theologischen Wissenschaft, in: SaThZ 20 (2016), 172–188; B. Kranemann, Liturgiewissenschaft in der multiplen Moderne, in: ebd. 201–215.

      5 Für Situativität spricht sich aus St. Winter, „… Oder bleibt nichts?“ Zu Herausforderungen biblisch begründeter Gott-Rede angesichts von Großkatastrophen, in: Trauerfeiern nach Großkatastrophen. Theologische und sozialwissenschaftliche Zugänge, hg. v. B. Kranemann – B. Benz, Neukirchen-Vluyn – Würzburg 2016 (EKGP 3), 89–103, hier 90–97.

      6 Im Folgenden darf nicht übersehen werden, dass sich die Diskussion um die „multireligiöse“ Dimension dieser Feiern bislang aus religionssoziologischen Gründen vor allem auf Juden und Muslime konzentriert und dass sie nicht auch andere Religionen und Weltanschauungen in den Blick nimmt. Vgl. dazu unten S. 18–20.

      7 Vgl. dazu unten S. 16.

      8 Vgl. Tote begraben und Trauernde trösten. Bestattungskultur im Wandel aus katholischer Sicht, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 32017 (Die deutschen Bischöfe 81).

      9 Vgl. Leitlinien für das Gebet bei Treffen von Christen, Juden und Muslimen. Eine Handreichung der deutschen Bischöfe. 24. Juni 2008. 2., überarbeitete und aktualisierte Auflage, hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 2008 (Arbeitshilfen 170).

      10 Vgl. L. Friedrichs, Kasualpraxis in der Spätmoderne. Studien zu einer Praktischen Theologie der Übergänge, Leipzig 2008 (APrTh 37), 226, der von der Glaubwürdigkeit der Kirchen spricht, die sich im liturgischen und diakonischen Begleiten menschlichen Suchens und Fragens zeige.

      11 M. Drobinski, Trauerfeiern. Die Stärke des Rituals, in: Süddeutsche Zeitung 1.8.2016, 4 (online unter: https://www.sueddeutsche.de/muenchen/trauerfeiern-die-staerke-der-ritualisierten-trauer-1.3101730 [3.1.2019]).

      12 Vgl. Abschlussbericht der Kommission „Weltanschauungen, Religionsgemeinschaften und Staat“ von Bündnis 90/Die Grünen (online unter: https://www.gruene.de/fileadmin/user_upload/Dokumente/160317_Abschlussbericht_Religionskommission_Gruene.pdf)