Inhalt
«Wie eine lebendige Urkunde» – Fragestellung
Merkwürdige Schweizer Geschichte, 1780–1830
Reiseführer, Reiseberichte und Anleitungen, wie man richtig reist
Eine Fahne und ihre Inszenierungen
Die Herstellung des Orts Morgarten
Feste, lebende Bilder und ein Fassadenbild
«Hier wohnt das Erbe der Väter», 1915–1945
Zentenarfeier 1915: Gedenken in Zeiten des Kriegs
Der Wille zur historischen Stätte
Tourismus und Morgarten im Zweiten Weltkrieg
Schulreise nach Morgarten, 1965
Die Schuljugend und die Schauplätze der Geschichte
Rückblick: Die junge Nation am Morgarten
Von der «klassischen Stelle» zum «Originalschauplatz»
Touristischer Geschichtsgebrauch: Thesen
Steine, Hellebarden und Hirtenhemden: Konjunkturen dreier Zeichen
Prolog: Ortstermine Morgarten, 2015
24. Januar 2015. Das Gedenkjahr zum 700-sten Jahrestag der Schlacht am Morgarten wird mit einer Fachtagung des Historischen Vereins der Zentralschweiz in Goldau eröffnet. Der Saal ist bis auf den letzten Platz besetzt – ungefähr 250 Personen hören den Aufruf des Eröffnungsredners, sich vor vermeintlichen Wahrheiten über Morgarten zu hüten. Aus Zeitgründen können keine Fragen gestellt werden. Ich überlege mir, was in den Köpfen des Publikums vor sich geht. Der ältere Herr neben mir mustert mich misstrauisch: «Sind Sie von der Presse?»
18. Juni 2015. Die Boulevardzeitung Blick erscheint mit einem grossen Aufmacher: «Die Schlacht am Morgarten ist bewiesen». Sondengänger hätten bereits im Frühjahr im Auftrag der Kantone Schwyz und Zug im Gebiet Schornen mit Metalldetektoren nach Überbleibseln der Schlacht am Morgarten gesucht und dabei zwei Dolche und zwei Pfeilspitzen gefunden, die aus der Zeit um 1315 stammen. Der Blick präsentiert die Funde als «Sensation». Ein Online-Kommentar zum Artikel klagt, Historiker seien elitäre «Nestbeschmutzer», die die Archäologie vernachlässigen würden – 1383 Likes.
19. Juni 2015. Die ehrenamtliche Helferin am «Volksfest für alle», bei der ich mein Eintrittsticket bezahle, trägt ein weisses Hirtenhemd, bestickt mit dem Festlogo und mit Sponsorenschriftzügen. 50 000 Personen besuchen an diesem regnerisch-kühlen Wochenende das dreitägige Volksfest im Ägerital. Ein Mittelaltermarkt bietet Handwerkskunst, Bogenschiessen, Geissen und Met-Ausschank. Am Eingang zum Festgelände stecken Holzhellebarden im Gras, von Schülern farbig bemalt. Darüber donnern F/A-18 Kampfflugzeuge in Schauformation. Die Armee ist auch zu Boden präsent: Im Ausstellungszelt der Armee, wo diese ihre Berufe und Lehrstellen vorstellt, klettern Kinder auf Panzern herum. In der Mitte des Festgeländes sind grosse Holzfiguren dreier bärtiger Männer aufgestellt. Diese «Helden von Morgarten» seien, wie ein Schild zu ihren Füssen verkündet, an den Meistbietenden zu verkaufen.
19. Juni 2015, nachmittags. Im Weiler Schornen wird das «älteste Holzhaus Europas», 2001 in Schwyz abgerissen, als Zeuge des 14. Jahrhunderts neu aufgebaut. Es ermögliche, ins Mittelalter einzutauchen, lese ich auf der Schautafel. Machen das «Schwyzerhaus» und das neue «Informationszentrum Morgarten» das Schlachtgelände, das bisher ohne materielle Überreste auskommen musste, zum Original-Schauplatz, auf dem sie sozusagen die «Möblierung» darstellen?
Abb. 1: Das Gedenkjahr erhöht die Nachfrage nach Überresten und nach wissenschaftlichen