Silvia Hess

Morgarten


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über den «vornehmen» Besucher, der «aus blosser Neugierde» so weit gereist sei, gewundert habe. Von einem Hügel aus habe er das Schlachtfeld von Morgarten gesehen. Auf zwei Zeilen rekapituliert Meiners die Geschichte der Schlacht am Morgarten in einer Version, die der Schilderung von Ägidius Tschudi im 1734–1736 veröffentlichten Werk Chronicon helveticum naheliegt.50 Tschudis Erzählung war von mehreren anderen Werken des 18. Jahrhunderts übernommen worden, etwa den populären Geschichten Schweizerischer Eidgenossenschaft von Johannes von Müller, den Meiners persönlich kannte. Die zwei wichtigsten Motive in Meiners Morgartendarstellung sind die ungleichen Gegner – wenige schlecht bewaffnete Fusskrieger gegen viele schwerbewaffnete Ritter – und die Steinlawine vom Berg herab. Von der Schlacht erzählt Meiners, als er von seinem Aussichtspunkt ins Ägerital zurückblickt und nicht, als er am Ort der Schlacht steht. Dieser Blick entspricht der Vogelperspektive, mit der die zeitgenössischen Kupferstiche das Ägerital als ländliches Arkadien zeigen. Die «schöne» Ansicht der Landschaft von oben war für Meiners der geeignete Standort, um sein Nachdenken über die Schlacht zu verorten. Die Frage nach dem genauen Standort der Schlacht spielte für ihn offensichtlich keine Rolle.

      Reiseschriftsteller

      Was in Reiseberichten über die Orte, Landschaften und deren Bewohner geschrieben wird, sagt viel über das Selbstverständnis des jeweiligen Autors und seiner Adressaten aus, im Falle Meiners jenes eines vornehmen Gelehrten. Der Literaturwissenschaftler James Buzard charakterisiert die schreibenden Touristen als eine Art Antitouristen – Touristen, die sich nicht als solche verstehen und sich von den anderen Touristen abheben wollen, indem sie unterwegs schreiben.51 Schreibende Touristen sind von der bereits existierenden Reiseliteratur geprägt, sie sind sich der kulturellen Vorstellungen bewusst, was als sehenswürdig gilt, wie es beschrieben wurde und von ihren Lesern sogleich wiedererkannt wird – sie wissen, was ihrer Leserschaft bekannt ist und was sie vom Autor erwartet.52 Zugleich betonen sie jeweils ihre eigene, von bisherigen Reiseberichten abweichende Sicht und praktizieren somit eine Geste der Selbstausnahme, auch wenn sie bekannten Reiserouten folgen. Buzard nennt diese Schreibhaltung ein rollendistanzierendes Handeln: Die Autoren versuchen, sich aus ihrer Rolle als Touristen und deren Konventionen zu heben oder sogar in eine vermeintlich direkte Beziehung zum beschriebenen Ort zu treten. Das war nicht bloss Werbung für den eigenen Reisebericht, sondern stellte laut Buzard eine Auflehnung gegen die Vorstellung dar, dass der Einzelne von der Kultur bestimmt sein soll – ein Plädoyer für individuelles Erleben.53

      Die Literaturwissenschaft beschreibt Reiseberichte als heterogene, gemischte Textform, die vor allem zwischen den zwei Feldern der Autobiografie und der Wissenschaft oszilliere.54 Reiseberichte würden sich stilistisch aber auch bei Memoiren, Journalismus, Briefen, Reiseführern, Bekenntnisschriften und vor allem bei der Literatur bedienen.55 Das Erlebnis der Reise, die Fremderfahrung, werde in einem Schreibprozess geordnet, reflektiert, repräsentiert, übersetzt und umgewandelt.56

      Mit zunehmender Zahl bildeten die Reiseberichte ein eigenes Referenzsystem, in welches sich spätere Reisende im Vorfeld ihrer Reisen einlasen.57 In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde es in England und Deutschland Mode, einen Reisebericht zu veröffentlichen. Charles Dickens spottete 1846 in seinem eigenen Italienbericht, dass es wahrscheinlich kein berühmtes Bild und keine Statue in ganz Italien gäbe, die man nicht unter einem Berg von gedrucktem Papier begraben könne, das sich seiner wissenschaftlichen Beschreibung widme.58 Mit einer ähnlichen Pointe machte sich Gottlob Heinrich Heinse 1810 lustig, dass sich mit den Reisebeschreibungen der Schweiz «vielleicht der Rhein dämmen liesse».59 Auch die Reiseberichte über die Schweiz vervielfältigten sich Ende des 18. Jahrhunderts. Einige von ihnen waren aufwändig erstellte Texte, andere schnell zusammengestellte Collagen aus älteren Berichten.60 Als Illustrationen wurden bereits existierende oder eigens angefertigte Landschaftsstiche, Karten oder auch Porträts eingefügt. Aber die Reiseberichte waren nicht nur aufgrund ihrer puren Anzahl eindrücklich. Ihre Inhalte wirkten auf die Vorstellungen ihrer grossen Leserschaft ein – auch auf deren Geschichtsbilder.

      Reiseliteratur und «nation building»

      Reiseliteratur spielte im Prozess des «nation building», der Nationalstaatsbildung, eine wichtige Rolle.61 Wie hat das Reisen und die Reiseliteratur das Bild der Nation beeinflusst? Der Historiker Georg Kreis schreibt, dass die Reiseberichte des 18. Jahrhunderts die Eidgenossen «auf das eigene historische Erbe aufmerksam» gemacht hätten und diese sich daraufhin in einer Bewegung des Aufklärungs- und Reformpatriotismus vermehrt auf historische Vorbilder bezogen hätten.62 Reiseberichte machten die patriotische Bewegung nicht nur auf ihre Geschichte, sondern auch auf deren «Stätten» aufmerksam, und sie formten die Erzählungen zu diesen Orten wesentlich mit.

      Die Überlegungen, wie Reiseliteratur und Selbstbild der Schweiz zusammenspielten, spitzte der Schriftsteller Michail Schischkin zu: «Es waren Reisebeschreibungen, die das Land kreierten, die Wortgebilde haben sich über die Realität gelegt.»63 Ein erfolgreicher Reisebericht habe eine Welle neuer Reisender und Reisebeschreibungen ausgelöst. Die Reiseliteraten «leisteten so etwas wie einen unausgesprochenen Rütlischwur bei der Gründung der virtuellen Eidgenossenschaft.»64 Die realen Bewohner dieses erdichteten Landes hätten nicht nur «marktgerecht» an der Idylle herumgefeilt, sondern konnten auch «ihr Brot verdienen, indem sie als ideale Schweizer arbeiteten.»65 Und letztlich, so Schischkin, prägten sich das reale Land und das erdichtete Land gegenseitig so stark wie ein Schauspieler und seine Bühnenrolle, die er kreiere und dabei gleichzeitig sich selbst bleibe und die ihn wiederum präge; umso mehr, als er auch nach Ende der Vorstellung sozusagen auf der Bühne lebe.66 Was heisst dies konkret für das Geschichtsbild des späten 18. Jahrhunderts?

      Christine von Arx schreibt in ihrer Untersuchung über Zeughäuser, dass deren Geschichtsinszenierungen stark lokal geprägt gewesen seien und dass die Macher der Präsentationen jeweils die Geschichte ihres Ortes in Abgrenzung zu den anderen eidgenössischen Orten präsentiert hätten.67 Im Gegensatz dazu hätten sich deutsche, englische und französische Reisende in ihren Berichten über die Zeughäuser auf die Schlachten der Eidgenossen konzentriert. So habe die «Fremdperspektive» eine «imaginierte Eintracht» beschworen, bevor diese Geschichten von nationalen Akteuren ausgeschöpft worden seien.68 Der Blick der Touristen gründete die nationale Perspektive auf Geschichte mit.

      Aus der Reiseliteratur lässt sich folglich nicht zuverlässig erfahren, wie der Ort aussah, den Reisende auf Spurensuche nach der Schlacht am Morgarten besucht und was die Reisenden dort erlebt hatten. Aber die Reiseliteratur zeigt, mit welchen Motiven und in Bezug auf welches historische Material Reiseschriftsteller in der Frühzeit des Tourismus (1780–1830) die Schlacht am Morgarten erzählten und ihren Besuch auf dem Schlachtfeld schilderten.

      Philippe-Sirice Bridel, Juli 1790

      An einem Samstag im Juli 1790 wanderte Philippe-Sirice Bridel (1757–1845) vom Dorf Hütten auf den Mangliberg, von wo aus er einen Rundblick über das Mittelland, die Voralpen und das Ägerital vor Augen hatte – «den berühmten See, dessen Wellen das glorreiche Schlachtfeld von Morgarten bespühlen».69 Der aus Lausanne stammende Bridel arbeitete im Jahr 1790 als reformierter Pfarrer in der französischen Kirche von Basel.70 Die Wanderung auf den Mangliberg war Teil einer Fussreise durch die Schweiz, die Bridel von Basel über den Aargau und Zürcher Gebiet in die Zentralschweiz führte. Er stieg vom Mangliberg nach Ägeri hinab und kehrte vermutlich in Oberägeri in ein Wirtshaus ein, wo ein «ehrlicher» Wirt ihm ein Mittagessen vorsetzte, «vortreffliche Fische, ausgesuchter Käse, Bergkohl, und Wein, der jenseits des Gotthards wächst».71 Der französische Gelehrte Mabillon habe die Wirtshäuser der Innerschweiz 1683 in mehreren Punkten falsch beschrieben, merkt Bridel an und zitiert Mabillons Beschwerden: Fliegen, Tabakgestank, schlechtes Essen, zu kurze Betten für einen Franzosen und kein Feilschen über den Preis. Bridel beschreibt indes ein pittoreskes Ägerital, wobei ihm die hübschen jungen Frauen und Kinder auffallen, 72 was kein Zufall ist. In den Reiseberichten um 1800 sind solche Bemerkungen meist Ausdruck der verbreiteten Vorstellung, dass die Landschaft das