in Morgarten die patriotisch aufgeladene, gemeinsame Herkunftsgeschichte der Helvetier, die die Jugend unterweisen solle. Gerhard Anton von Halem liest die Geschichte der Schlacht als erfolgreichen Kampf für die Freiheit, aber interpretiert auch den Morgartenbund, mit einem Zitat aus Johannes von Müller, als sei er für «eine einige Nation» geschlossen worden. Johann Gottfried Ebel spricht von den «Eidgenossen», die in Morgarten für ihre Freiheit kämpften, und projiziert so eine eidgenössische Herkunftsgeschichte auf Morgarten. Für Ebel war das Ägerital «merkwürdig», weil es für die Befreiungsgeschichte stand. Die Reiseschriftsteller interpretierten die Geschichte der Schlacht abhängig von ihrer Gegenwart und ihrer politischen Haltung, die von den politischen Veränderungen in Europa Ende des 18. Jahrhunderts geprägt war. Die These von der Fremdperspektive, welche die eigene nationale Geschichte betonte, mag auf Bridel, Halem und insbesondere Ebel zutreffen. Auf Meiners und Heinrich Zschokke – zu ihm gleich mehr – trifft sie nicht zu. Zschokke liest die vormoderne Geschichte der Eidgenossenschaft nicht als nationales Werden, sondern ordnet sie als Beispiel für eine Stufe in der Entwicklung eines «Volkes» ein und spricht dabei von einem mühevollen Sieg des «Hirtenvolk des Ländleins Schwyz» im Kampf für ein «selbständiges Leben».134 Die Reiseschriftsteller inszenieren Schweizer Geschichte des Mittelalters zwar auf den ersten Blick in einem nationalen Rahmen, aber sie «globalisieren» diese Geschichte auch, sodass sie in anderen Zusammenhängen anschlussfähig und für internationale Besucher markttauglich ist.135
Diese unterschiedlichen Zugänge und Darstellungen mögen auch damit zusammenhängen, dass Morgarten eine widerspenstige Geschichte ist, die sich aufgrund der Eidgenossen auf Habsburgerseite nicht so einfach ins Bild einer «einigen Nation» fügen liess. Die Reiseliteratur mit ihren hohen Auflagezahlen verbreitete aber historische Narrative weiter und wirkte vermutlich auch in die historiografischen Werke zurück.136
Der Ort Morgarten selbst wird meist als eine einsame Voralpenlandschaft an einem pittoresken See beschrieben, die einem zeitgenössischen Schönheitsideal entsprach. Dennoch entsteht der Eindruck, dass weniger ein konkreter Ort als eine emphatisch gefühlte Herkunftsgeschichte besucht wird. Dies widerspricht Christine von Arx’ These, dass im 18. Jahrhundert das Interesse an konkreten Schauplätzen erwacht sei. Das «Hier wars» von William Coxe lässt sich möglicherweise auch als eigenen Standpunkt deuten, den der Autor an «Zeigefingern» wie einer Schlachtkapelle oder einer bekannten Landschaftsansicht festmachte.
Klassische Stelle Morgarten
Heinrich Zschokkes Katalog der klassischen Stellen, 1836
Mit der Formulierung «klassische Stellen» benutzten Johann Gottfried Ebel und Gerhard Anton von Halem einen Begriff, der 1836 vom Schriftsteller und Politiker Heinrich Zschokke eingeführt wurde. Zschokke hat ihn in seiner Publikation Die klassischen Stellen der Schweiz und deren Hauptorte in Originalansichten in den Titel aufgenommen – ein zweibändiges, mehrfach aufgelegtes Werk, das sich als Mischung von Bildband, Geschichtsbuch, Reisebericht und Reiseführer umschreiben lässt.137 Die von Zschokke ausgewählten und beschriebenen «klassischen Stellen» gelten seit Ebels Anleitung als etablierte Sehenswürdigkeiten der Schweiz.138 Wie wurde die klassische Stelle Morgarten visualisiert?
Das sechste Kapitel von Zschokkes Klassischen Stellen heisst Die Kapelle bei Morgarten und ist mit einem Stich illustriert. Er zeigt die Schlachtkapelle an der Schornen von Süden gesehen, mit einer Frau auf dem Strässchen, die einen Korb trägt, und weit im Hintergrund der Ägerisee und Berghänge.
Zschokke beschreibt den Standort der Schornenkapelle als Mitte zwischen zwei «Siegesfeldern».139 Die Schlacht am Morgarten von 1315 und der Kampf zwischen den Schwyzern und den Franzosen von 1798 werden in einem Atemzug nebeneinandergestellt: «Auf der Höhe, zwischen den beiden Siegesfeldern, steht neuerbaut nun die Schornen-Kapelle, ohnweit dem Morgarten und dem Rothenturm. Sie ist zugleich das Denkmahl der Faustrechtszeiten, vom XIII bis zum XIX Jahrhundert […].»140 Die Schornenkapelle ist die «klassische Stelle», an der sich gleich zwei kriegerische Ereignisse besuchen liessen. Indem Zschokke beide Ereignisse den «Faustrechtszeiten» zuordnet, schafft er einen gemeinsamen Rahmen: Die Wandbilder vergegenwärtigen die mittelalterliche Schlacht, und die Mauern des Turms – das Materielle, nicht die Ansicht des Turms – fungieren als Zeugen des Mittelalters und der Gegenwart.
Abb. 4: Das Frontispiz der ersten Auflage von Heinrich Zschokkes Werk Die klassischen Stellen der Schweiz und deren Hauptorte in Originalansichten (1836) ziert ein Stahlstich, der das Konzept der klassischen Stellen gut ins Bild setzt – ein ländlicher Ort vor beeindruckender Kulisse, bestückt mit «typischen» Figuren und Bauten.
Abb. 5: Die klassische Stelle Morgarten in Zschokkes Werk. Wenige Jahrzehnte später wird eine Postkarte produziert werden, die eine Fotografie der Schlachtkapelle aus derselben Perspektive und ebenfalls mit einer Frau mit Korb auf dem Weg zeigt. Es handelt sich hierbei also um ein Motiv, das in ein neues Bildmedium wandern wird.
Was meint Zschokke mit dem zweiten «Siegesfeld» von Rothenthurm? Im April 1798 gaben die Regierungen von Schwyz, Nidwalden, Glarus und Uri bekannt, dass sie die soeben ausgerufene helvetische Verfassung ablehnten. Gründe waren Ängste um die katholische Religion, um Privilegien der herrschenden Schicht, um die kantonale Souveränität und vor der neuen Staatsordnung.141 Die Verfassung der Helvetischen Republik machte aus der Eidgenossenschaft der zwölf Orte mit ihren «Zugewandten Orten», eigentlichen Untertanengebieten, einen zentral organisierten Staat mit Gewaltentrennung. Die Schwyzer Truppen wurden von Alois Reding angeführt, der nach seiner Rückkehr aus spanischen Kriegsdiensten 1796 zum Landeshauptmann von Schwyz ernannt worden war.142 Redings Truppen besetzten widerstandslos Luzern und erreichten über den Brünigpass das Berner Oberland, zogen sich dann aber wieder nach Schwyz zurück, weil sie im Berner Oberland keine Unterstützung erhielten und weil inzwischen französische Truppen über Zug, Luzern und den Sattel Richtung Schwyz vorstiessen.143 Die Schwyzer Truppen unterlagen den Franzosen bei einem Gefecht bei Schindellegi. Am 2. Mai 1798 schlugen sie jedoch bei Rothenthurm an den Hängen des Morgartenbergs die französischen Truppen zurück. Einzelne Autoren sprechen deshalb von Gefechten bei Morgarten, als Ort und Name des Hauptgefechts gilt jedoch Rothenthurm.144 Angesichts der aussichtslosen Lage stimmte am 4. Mai 1798 die Schwyzer Landsgemeinde einer Kapitulation zu: Die französischen Truppen gewährleisteten religiöse Freiheit sowie Verzicht auf Entwaffnung und Besetzung des Kantons Schwyz. Diese günstigen Kapitulationsbedingungen soll der Respekt gegenüber dem Schwyzer Widerstand bewirkt haben.145
Alois Reding, der «Sieger von Rothenthurm», wurde zu einer wichtigen Symbolfigur, der Gedichte, Schauspiele, Reiseberichte und historiografische Werke huldigten.146 Schon bald besuchten Reisende die Kampforte von 1798. Heinrich Zschokke, neu helvetischer Regierungskommissär, freundete sich mit Alois Reding an und berief sich in seiner Schilderung des Schwyzer Widerstandskampfs Geschichte vom Kampf und Untergang der Schweizerischen Waldkantone, besonders des alten eidgenössischen Kantons Schwyz von 1801 symbolkräftig auf Redings Angaben.147 Zschokke verglich in dieser Publikation den Kampf gegen die Franzosen von 1798 mit den Heldentaten der mittelalterlichen Eidgenossen und rückte folglich die Schlacht am Morgarten in die Nähe des Gefechts bei Rothenthurm und der Gegenwart: «Europa hat kein Land, worin die Geschichten der vaterländischen Vorzeit so unvergessen und neu geblieben, […] als in jenen Gebirgen. Seit den Thaten Tells und dem Kampfe von Morgarten scheinen nur so viele Jahre verflossen zu seyn, als es Jahrhunderte waren.»148 Ist an der «klassischen Stelle» Geschichte präsent, weil die Zeit dort nur sehr langsam vergeht? Der Historiker Eric Godel formulierte den Gedanken von der «Vorstellung einer immobilen Geschichte in den Alpen».149 Dieses Geschichtsbild sei von Aufklärern konstruiert worden und finde sich in der Literatur und in Reiseberichten. Die Vorstellung einer immobilen Geschichte legt nahe, dass eine Zeitreise möglich sei, wenn man diese Gegenden aufsuche. Eine Formulierung Heinrich Zschokkes von 1822 lässt sich in diese Richtung