überhöht und das Schlachtfeld in ein «ästhetisches Gefilde», eine schöne Landschaft, eine «klassische Stelle» verwandelt.
Nicht das zeitgenössische Morgarten, sondern die Ereignisse von 1315 zeichnete der Künstler Lorenz Ludwig Midart (1733–1800). Midart war ursprünglich Advokat am Parlament von Metz, lebte ab 1772 als Sprachlehrer in Solothurn und war später Pagenhofmeister am Hof des Fürstbischofs von Basel im jurassischen Pruntrut. Ab den 1770er-Jahren stellte Midart in Solothurn Radierungen, Stadtveduten und Pläne her. Zwischen 1779–1788 fertigte er sechs Schlachtdarstellungen zur mittelalterlichen «Befreiungsgeschichte» der Schweiz an, darunter eine grossformatige kolorierte Radierung zur Schlacht am Morgarten, die als Einzelblatt verkauft wurde.166 Midarts Stich zeigt ein räumlich und zeitlich ausgedehntes Bild der Schlacht, eine Art Panoramaversion der Schlacht.167 Links im Bild rollen Männer Steine und Baumstämme auf die habsburgischen Ritter. Einige Ritter versuchen mit ihren Pferden durch den See zu fliehen, andere ertrinken im Wasser. Auf einer Wiese am See prallen zwei von Lanzen gekränzte Gruppen aufeinander, im Vordergrund finden Zweikämpfe statt. Im Hintergrund ist der Letziturm mit einem angebauten Tor gezeichnet, durch das eine Kolonne von Kämpfern mit Lanzen und zwei Fahnen strömt. Noch weiter im Hintergrund ist die Kapelle in der Schornen sichtbar. Herzog Leopold ist nicht eindeutig auszumachen, möglicherweise ist er einer der Reiter am Seeufer am linken Bildrand.
Diese bildnerischen Darstellungen von Morgarten um 1800 lassen sich mit dem Konzept des Pittoresken deuten. Dessen Idee wurde in den 1820er-Jahren formuliert, wobei die Landschaftsmalerei des 18. Jahrhunderts eine grosse Rolle spielte.168 Laut James Buzard verlange das Pittoreske nicht eine Szene, die «wie» ein Gemälde aussehe, sondern eine harmonische Szene (oder einen Schauplatz) aus einem bestimmten Blickwinkel. Bei pittoresken Bildern werden Alltagshandlungen und die Bevölkerung weggelassen. Woher wusste Midart, wie er die Schlacht zeichnen sollte, damit sie als Schlacht am Morgarten erkannt wurde? Was waren mögliche Vorlagen?
Rückblende: Morgarten in den Bilderchroniken
Die drei ältesten bildlichen Darstellungen der Schlacht am Morgarten, die überliefert sind, wurden für spätmittelalterliche Chroniken gezeichnet. Die früheste bildliche Darstellung findet man in Benedikt Tschachtlans und Heinrich Dittlingers Berner Chronik von 1470. Die beiden Angehörigen von führenden Berner Ratsfamilien stellten für ihre Familien eine illustrierte Chronik her, die als erste Bilderchronik in der Eidgenossenschaft gilt – ein Format, das im Spätmittelalter viele Nachfolger fand.169 Möglicherweise hat Tschachtlan selbst die 230 farbigen Bilder gemalt.
Auf der Tschachtlan-Zeichnung ist der See im Vordergrund ein schmales Gewässer in einem Geländeriss. Zu sehen sind wenige Menschen auf einer abschüssigen Wiese. Aus dem Wald treten die mehrheitlich berittenen Habsburger, einige von ihnen ertrinken jedoch bereits im See. Herzog Leopold ist an seinem dekorierten Helm und Pferd sowie am rot gekleideten Hofnarr an seiner Seite zu erkennen. Die Habsburger tragen ihr rot-weisses Wappen mit sich und sind einzeln mit einem roten Kreuz auf Brust oder Helm gekennzeichnet, die Schwyzer tragen ein hoch aufragendes rotes Wappen mit einer Jesus-Kreuzigung in der oberen rechten Ecke mit sich und auf ihren Kleidern und Helmen ein weisses Kreuz.172 Zentrales Geschehen ist die Konfrontation zwischen dem vordersten, schwerttragenden Habsburger und dem selbstbewusst wirkenden Eidgenossen mit einer roten Feder am Helm, der die Spitze seiner Hellebarde seinem Widersacher auf die Brust gesetzt hat, direkt auf das dort angebrachte rote Kreuz. Die beiden Gegner unterscheiden sich weder durch Kleidung, noch durch Bewaffnung, einzig die Pferde traben nur von Habsburgerseite herbei.
Abb. 10: Das älteste Morgartenbild: Benedikt Tschachtlans Berner Chronik von 1470 zeigt die Schlacht am Morgarten in einer Art stilisierten Verkleinerung.170
Abb. 11: Der Illustrator der Spiezer Chronik von 1483 – es ist umstritten, ob es ihr Schreiber Diebold Schilling selbst war171 – malte die Schlacht am Morgarten in einer ähnlichen Landschaftskomposition, aber mit mehr Figuren und Details als bei Tschachtlan.
Vergleicht man diese Zeichnung mit den weiteren zahlreichen Schlachtbildern in der Tschachtlan-Dittlinger-Chronik, so fällt auf, dass diese bühnenartige Geländedarstellung mit Wald, leicht abschüssiger Wiese und Protagonisten in ähnlicher Kleidung ein häufig verwendetes Modell ist. Die Chronikbilder sind schematisch aufgebaut und sehen einander sehr ähnlich. Eigentümlich am Bild der Morgartenschlacht ist nur der kleine See. Dennoch habe, so schreibt der Kunsthistoriker Michael Tomaschett, Tschachtlans Illustration einen «Bildtopos» geschaffen, der von zwei weiteren Bilderchroniken adaptiert worden sei.173 Worin besteht der Bildtopos von Morgarten?
Die Tschachtlan-Dittlinger-Chronik wurde bis 1787 privat aufbewahrt und kam nur einem kleinen Kreis von Familie und Gästen zu Gesicht. Quasi gleichzeitig, 1483, und ebenfalls in Bern, womöglich sogar im Austausch mit Tschachtlan, 174 verfasste der Schreiber Diebold Schilling der Ältere im Auftrag des Altschultheissen Rudolf von Erlach die Spiezer Chronik.175 Wie mit seinen drei früheren Chroniken war es Schillings Anliegen, Geschichte für moralische Belehrung zu nutzen und als politische Rechtfertigung für eine antiburgundische Politik Berns darzustellen.176 Schillings Chroniken beeinflussten das Geschichtsbild der frühen Neuzeit stark.
Die Spiezer Chronik zeigt vorne einen See mit ertrinkenden Rittern, dahinter eine abfallende grüne Wiese und auch hier einen dichten Wald, diesmal allerdings am rechten Bildrand. Die Habsburger nähern sich wieder von links, Leopold wiederum zu Pferd und von seinem Hofnarren begleitet, der ein Musikinstrument spielt. Die Habsburger werden wiederum durch ihre Fahnen, diesmal sind es vier, gekennzeichnet. Eine Burg in der oberen linken Bildecke soll vermutlich die Herrschaft der Habsburger darstellen. Die Gegner der Habsburger sind bei Schilling in der Unterzahl. Es sind zwei Gruppen, die die Habsburger angreifen. Die Gruppe im Bildhintergrund ist ähnlich gekleidet und bewaffnet wie die Habsburger und trägt drei Fahnen von Uri, Schwyz (mit fahnenfüllender Kreuzigungsdarstellung) und Unterwalden mit sich.177 Eine zweite Gruppe von Eidgenossen im Vordergrund trägt weder Rüstungen noch Helme, stattdessen farbige Kleider und rote Kopfbedeckungen, die mit je einer roten und einer weissen Feder geschmückt sind. Es könnte die Gruppe der Verbannten sein. Einer von ihnen ist mit einem weissen Kreuz auf der Rückseite des roten Oberteils gekennzeichnet. Auch wenn einige dieser Gruppe Schwerter und Hellebarden in der Hand tragen, werfen sie Steine auf ihre Angreifer. Einer der Steinewerfer im Bildvordergrund sinkt gerade, von einer Lanze getroffen, auf den Boden nieder. Vorgestreckte Lanzen markieren das Zusammenprallen der beiden Kampfgruppen, eine häufige Darstellungsweise auf den Schlachtenbildern in Schillings Chroniken, die mit der zeitgenössischen Bewaffnung von 1315 nichts gemein hat.
Das dritte der bekannten Chronikbilder der Schlacht am Morgarten stammt aus der Gemeiner loblycher Eidgenossenschaft […] Beschreibung des reformierten Theologen Johannes Stumpf, die dieser erstmals 1547/48 in Zürich drucken liess. Das heute einfachheitshalber «Reformationschronik» genannte Werk war mit vielen Holzschnitten ausgestattet, die grösstenteils der deutsche Illustrator Heinrich Vogtherr der Ältere im Auftrag des Zürcher Buchdruckers und Verlegers Christoph Froschauer angefertigt hatte.178
Vogtherrs Holzschnitt in Stumpfs Chronik zeigt wiederum einen See im Vordergrund – allerdings grösser als in den Vorgängerwerken und umringt von Häusern, Kirche, Kapelle und Zaun. Zwei Ritter in Rüstung schwimmen mit ihren Pferden durch den See. Ein einzelner Ritter mit geschmücktem Pferd reitet am Seeufer vom Kampfgeschehen weg, den Blick auf die schwyzerischen Kämpfer gerichtet – möglicherweise ist dies der fliehende Herzog Leopold.179 Auf dem Hang hinter dem See werfen Männer, die mit Kreuzen auf dem Rücken kenntlich gemacht sind, Steine in Richtung der mehrheitlich schon fliehenden Habsburger in Helm und Rüstung. Bei Stumpf ist die Flucht stärker betont als die Kampfhandlung.180 Die schwyzerischen Kämpfer tragen einheitliche Kleidung und eine leichte Rüstung mit Helm ohne Gesichtsvisier. Die Habsburger tragen viele kleine und grosse Fahnen mit sich, von denen jedoch alle blank sind. Ein habsburgischer Ritter und sein Pferd liegen im unteren Bereich