Silvia Hess

Morgarten


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organisierte die 500-Jahr-Feier von Morgarten im turbulenten Sommer 1815? Der Text der Einladung spricht dafür, dass die aktuellen politischen Umstände den Anlass zur Feier gaben: «Man zählte gerade 500 Jahre seit der folgereichen Schlacht am Morgarten, von welcher die gesicherte Freyheit und Unabhängigkeit der Urkantone sich datiert und welchem wichtigen Ereignisse auch die übrigen Kantone ihre Freyheit und Selbständigkeit in der Folge zu verdanken haben. Es ist ein besonderes Zusammentreffen, dass gerade […] diese erkämpfte Freyheit neuerdings von den grossen Mächten Europas bestätigt und garantiert wird.»223 Dreimal wird in dem zitierten Ausschnitt der Begriff «Freyheit» erwähnt: Die Freiheit, die sich die Urkantone 1315 sicherten, die Freiheit, die daraus auf ungenannte Weise für die übrigen Kantone erwuchs, und die Freiheit, die in der Gegenwart 1815 am Wiener Kongress bestätigt werde. Über den elastischen Begriff der Freiheit schlagen die Veranstalter der Gedenkfeier einen Bogen von der Schlacht am Morgarten in die politische Gegenwart von 1815.

      Im September 1815 wurde in Schwyz die Schlacht am Morgarten auf neuartige Weise in einem Festspiel mit Unterhaltungsprogramm sowie anhand von Objekten, die die Geschichte verkörperten, inszeniert: Fahne, Hellebarden und Trachten. Die Fahne wurde als Reliquie und als Symbol für die Vorsehung Gottes in einer Reihe siegreicher Schlachten gefeiert. Diese Nutzung der Banner, die es bereits vor 1798 gab, verstärkte sich im Lauf des 19. Jahrhunderts. Ab 1822 wurden an den Schützenfesten die Schlachtfahnen mitgetragen und, laut Frei, «hoch verehrt».224

      Ebenfalls wichtige Inszenierungsmittel an der Gedenkfeier von 1815 waren Hellebarden und Trachten. Die Verbindung von Hellebarden mit der Schlacht am Morgarten kann sich auf die Chronik von Johannes von Winterthur berufen, der in seiner Schlachterzählung von 1340 die «helnbarta» erwähnt.225 1815 werden die Hellebarden als typisch mittelalterliche Waffen der Schwyzer inszeniert. Trachten waren 1815 hingegen ein neues Inszenierungsobjekt. Im Historischen Lexikon der Schweiz werden sie als regionsspezifische, dem Wandel bewusst entzogene, festliche Kleidung einer ländlichen Bevölkerung beschrieben, die im 18. Jahrhundert im Sinne einer «Erfindung von Tradition» (Eric Hobsbawm) kreiert wurde.226 Trachten zeigten 1815 ein gewachsenes kantonales und ländliches Selbstverständnis und sollten eine «typische» Schweizer Bevölkerung ins Bild setzen. Vermutlich wurde die Nachfrage nach Trachtenbildern auch von einer touristischen Käuferschaft angeregt.

      Ein weiteres Inszenierungsobjekt von Morgarten ist der Pfeil von Hünenberg.227 Zwar taucht er in den Quellen über die Schwyzer Feierlichkeiten von 1815 nicht auf, doch soll im selben Jahr der Luzerner Patrizier Anton Zurgilgen den Pfeil der Goldauer Familie Zay geschenkt haben. Diese bestätigte schriftlich den Besitz des Pfeils 1862.228 In den 1880er-Jahren war der Pfeil im Hotel Rigi in Arth als Wandschmuck ausgestellt. 2015 wurde jener Pfeil, den die Korporation Unterallmeind in Arth als «originalen» Hünenberger Pfeil ausgestellt hatte, archäologisch und mit Radiokarbonanalyse auf sein Alter überprüft. Das Ergebnis war eine Datierung sowohl der Geschossspitze als auch des Holzes in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts, wobei festgehalten wurde, dass das Holz erst nach 1315 zu einem Pfeil verarbeitet wurde.229 Es ist vermutlich kein Zufall, dass ein Hünenberger Pfeil genau im Jahr 1815 verschenkt worden sein soll. Die Gedenkjahre erhöhen die Nachfrage nach historischem Material, mit dem sich einzelne Personen, Familien oder die Obrigkeit inszenieren können.

      Obwohl man 1815 in Schwyz plante, wieder jährlich eine Morgartenfeier zu veranstalten, waren die Gedenkfeiern der 1820er- und 1830er-Jahre nur kleine Feiern, die 1833 versandeten. 1821 gründeten Schweizer Studenten, die an ausländischen Universitäten studierten, in Aarau den sogenannten Sempacherverein, der Reisen zu den alteidgenössischen Schlachtfeldern organisierte, wo die Mitglieder Erinnerungsfeiern abhielten.230 Ziel des Vereins war es, die Vaterlandsliebe zu stärken und «die heiligen Stätten des Vaterlandes, geweiht durch die Grossthaten unserer edlen Väter, in eidsgenössischer Eintracht zu besuchen […]». Diese als «patriotische Wallfahrten» bezeichneten Ausflüge führten den Sempacherverein nach Sempach, auf die Ufenau bei Stans, nach Murten, Näfels, Stoss, Schwaderloh und nach St. Jakob an der Birs. 1829 löste sich der Sempacherverein wieder auf. Morgarten fehlte aus unbekannten Gründen auf der Ausflugsliste des Sempachervereins.231

      Trotz dieser wenig erfolgreichen Fortsetzungen kann man behaupten, dass mit der Inszenierung von 1815 ein Schema von Morgartenfeiern erfunden wurde. Das historische Gedenkjahr, das sich auf eine runde Zahl berufen kann, wurde in grossem Rahmen mit Unterhaltungsangeboten als Symbol für Eigengeschichte gefeiert, womit eine Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart hergestellt werden sollte.232

      Rückblende: Geschichtsgebrauch vor 1800

      Die 500-Jahr-Gedenkfeier war nicht der erste Anlass, der sich auf die Schlacht am Morgarten berief. Seit dem 16. Jahrhundert sind Schlachtjahrzeiten belegt. In der älteren Literatur wird angenommen, dass die Schlachtjahrzeiten wenige Jahre nach den kriegerischen Ereignissen erstmals durchgeführt worden seien und sich seither unverändert erhalten hätten.233 Meist wird auch davon ausgegangen, dass es sich bei den Schlachtjahrzeiten um typisches eidgenössisches und vor allem innerschweizerisches «Brauchtum» handle.234 Der Historiker Rainer Hugener führte diese Lehrmeinungen wesentlich auf den Einfluss der 1940 erschienenen Quellensammlung Das Schlachtjahrzeit der Eidgenossen nach den innerschweizerischen Jahrzeitbüchern des Klosterarchivars von Einsiedeln Rudolf Henggeler (1890–1971) zurück.235 So wie der Titel von «Das Schlachtjahrzeit» in Singular spricht, verstand Henggeler die Schlachtjahrzeit als singuläres, immer gleich bleibendes, religiöses «Volksbrauchtum». Schlachtjahrzeiten wurden jedoch im Spätmittelalter von benennbaren Akteuren aus bestimmten Anlässen und Absichten eingeführt. Die Obrigkeiten des Spätmittelalters hätten, so Rainer Hugener, die Schlachtjahrzeiten – «liturgische Feiern zum Andenken an bestimmte kriegerische Auseinandersetzungen»236 – angeordnet, um Niederlagen der spätmittelalterlichen Gegenwart zu bewältigen. Zum Beispiel sei das Gedenken an die Schlacht bei Sempach zuerst als Dankfeier für den Sieg gestaltet worden; den Gefallenen gedachte man erst nach der Niederlage von Arbedo 1422.237

      Seit wann wurde der Gefallenen von Morgarten gedacht? In den frühesten Jahrzeitbüchern der Innerschweiz wurde die Schlacht nicht erwähnt, die Namen der Gefallenen waren folglich auch nicht überliefert.238 Eine entscheidende Rolle für das Schlachtjahrzeit von Morgarten spielte der Berner Chronist Konrad Justinger.239 Justinger verfasste ab 1420 im Auftrag der Berner Obrigkeit eine Chronik der Geschichte der Stadt Bern von deren Gründung bis in die Gegenwart des frühen 15. Jahrhunderts. In dem später Berner-Chronik genannten Werk brachte Justinger die Schlacht am Morgarten mit der Gründung der Eidgenossenschaft in Verbindung und etablierte einen Kanon der siegreichen eidgenössischen Schlachten, der mit Morgarten beginnt.240 Zudem zog Justinger Parallelen zwischen der Schlacht am Morgarten und zeitgenössischen Berner Kämpfen gegen die Habsburger. Weshalb gab Justinger Morgarten ein grosses Gewicht in seinem Geschichtsbild? Die Berner Regierung wünschte sich vermutlich auch deshalb eine Stadtgeschichte, um Berns Eroberung des Aargaus, seine antihabsburgische Politik und seine aktuelle Bündnispolitik zu legitimieren und zu bestärken.241 Morgarten 1315 und Aargau 1415 hätten mit der Chronik Justingers im Gedenkjahr 2015 als Zusammenhänge gedacht werden können.

      Justingers Chronik diente dem Luzerner Melchior Russ als Vorlage für seine 1482–1488 verfasste Luzerner Chronik.242 Russ schrieb grössere Textteile aus Justingers Berner-Chronik ab. Unter anderem übernahm er Justingers Schlachtenkanon, nach dem Morgarten die erste in einem Kanon von «Freiheitsschlachten» gewesen sei, welche die Eidgenossenschaft begründeten.243 Das Urner Jahrzeitbuch aus den 1480/1490er-Jahren wiederum übernahm die Darstellung Morgartens von Justinger/Russ und nannte erstmals Namen von Gefallenen. Hugener zeigt, dass die Urner Verfasser des Jahrzeitbuchs tatsächlich aus Urkunden aus dem frühen 14. Jahrhundert «alt» wirkende Namen auswählten und dass einige der Namensträger auch nach 1315 noch am Leben waren. Als man die Namen der angeblichen Gefallenen niederschrieb, war man einerseits um eine Art historischer Authentizität besorgt, andererseits berücksichtigte man aktuelle Interessen. So bemühten sich herrschende Urner Familien wie die Beroldingen darum, einen ihrer Vorfahren in der Gefallenenliste unterzubringen, weil eine Beteiligung am ersten Freiheitskrieg als symbolisches Kapital