eine Ruine fremder Zeit.»150
Die Eidgenossenschaft, wie sie bis 1798 bestand, wird von Zschokke als unverändertes Produkt des Mittelalters dargestellt.151 Die Reisenden seien begeistert gewesen von der anmutigen und majestätisch wilden Natur und ihrer Bevölkerung «im Einklang» damit.152 Und dies, so betont Zschokke, obwohl die meisten Schweizer in Unfreiheit gelebt und die einzelnen Orte sich bekämpft hätten. «Klassische Stellen» sind ein Anziehungspunkt für diese Zuschreibungen: Es sind Orte, die eine Bühne für das Vergegenwärtigen einer Vergangenheit bieten. Sie werden auch bei Zschokke an Gedenkorten wie der Kapelle in der Schornen festgemacht. Die Frage um die exakte Einheit des Raums mit dem historischen Ereignis kümmert nicht, solange die Blickrichtung und die Gefühlslage vorgegeben sind. Was für eine Rolle spielten die klassischen Stellen für das Geschichtsbild der helvetischen Republik?
Auch die zentralistische Helvetische Republik legitimierte sich damit, dass sie von den Alten Eidgenossen, dem friedlichen Hirtenvolk in den Alpen, abstammen würde. Geschichte diente in der Helvetischen Republik als Integrationsmittel.153 Dabei übernahmen die nationalen Propagandisten der Republik Idealbilder «der Schweiz», «des Schweizers» und Narrative seiner Geschichte aus der Reiseliteratur.154 Reiseberichte lieferten die Vorlagen für Beschreibungen der eigenen Nation. Zwei Verfasser bekannter Reisebeschreibungen, Johann Gottfried Ebel und Johann Michael Affsprung, erhielten quasi für ihre nationalen Verdienste das Helvetische Bürgerrecht verliehen.
(Reise-)Schriftsteller hatten in den zeitgenössischen Bewohnern der Schweiz die direkten Nachfahren der Eidgenossen gesehen, die für die Freiheit gekämpft hatten – zum Beispiel Gerhard Anton von Halem 1790. Acht Jahre später kennen die französischen Eroberer diese National- und Geschichtsbilder aus der Literatur und die Helvetische Regierung propagiert sie für eine nationale Einigung.
Heinrich Zschokke schliesst seinen Text über die «klassische Stelle» Morgarten mit einer Landschaftsbeschreibung: «Hirtenwohnungen», aber keine Bewohner bevölkern das Bild – die imaginierten Gestalten der Geschichte stehen an ihrer Stelle. Der Schornenturm harrt als «Zeuge des barbarischen Mittelalters» besserer Zeiten. Was für eine Rolle spielt die Landschaftsbetrachtung für die klassische Stelle? Zschokke führt aus: «Es ist hier wohl eine der heiligsten Stätten des Schweizerlandes; aber auch, hier ob Morgarten, eine der schönsten, weitumher. Der Blick verliert sich träumerisch in einer wunderlieblichen Idyllenwelt.»155 Zschokkes Klassische Stellen erzählen nicht nur von den Ereignissen, deren man an jenen Orten gedenkt, sondern geben immer auch eine Blickempfehlung für den ästhetischen Genuss mit.156
Dass eine heilige Stelle auch schön und eine Hirtenidylle mit Alpenkranz ist, entspricht dem Konzept. Dieses besagt, dass der Ort eines wichtigen historischen Ereignisses, sei dieses schrecklich oder schön, eindrucksvoll und erhaben zu sein habe. Der Historiker Daniel Frei schreibt, dass man in der Helvetik zwei anschauliche Vorstellungen einer Schweiz propagiert habe. Man reduzierte die Schweiz auf die Orte der Befreiungstradition oder man konzentrierte sich auf die Darstellung einer «typisch schweizerischen» Ideallandschaft. Die Vorstellung der Schweiz als Landschaft der Befreiungstaten habe die vielfältige Schweiz in Form von «Szenen» veranschaulicht, die Mythen durch Lokalisierung greifbar gemacht und das Territorium in geweihten, klassischen Boden der Freiheit, den es zu verteidigen galt, verwandelt.157 Der Morgarten-Stich in Zschokkes «klassischen Stellen» ist sowohl typisch schweizerische Landschaft («Idyllenwelt») als auch lokalisierte, greifbar und anschaulich gemachte Befreiungsgeschichte («hier ob Morgarten»).
Georg Simmel sah den «Reiz der Ruine [darin], dass hier ein Menschenwerk schliesslich wie ein Naturprodukt empfunden wird.»158 Zschokkes Konzept der «klassischen Stelle» verwandelt auf ähnliche Weise die Schauplätze von Geschichte in pittoreske Szenen, in zeitentrückte Ansichten, die ohne Vermittlung überdauert hätten und deshalb für die Evokation von «merkwürdiger» Geschichte und damit verbundener Vorstellungen geeignet sind.159 Die historische Stätte muss dabei offensichtlich kein Überrest aus der Zeit des Ereignisses sein. Auch Gedenkkapellen, ein Denkmal, ein Wohnhaus oder Landschaftselemente (und Geschichte) können wie eine Ruine, wie ein Naturprodukt, wahrgenommen werden.
Morgarten in Radierungen um 1800
Ruinen, Kapelle, Landschaft – wer stellte Bilder der «klassischen Stelle» Morgarten her und was zeigten diese Bilder? Die folgenden zwei Bilder sind heute als golden gerahmte Einzelblätter in Archiven und Bibliotheken sowie auf Online-Verkaufsportalen zu finden. Sie zierten im 19. und 20. Jahrhundert vermutlich bürgerliche Wohnzimmer. Hergestellt wurden diese Bilder aber um 1800 als Illustrationen von Publikumsliteratur über die Schweiz und als gut verkäufliche Einzelblätter, deren Käufer Ansässige und Reisende waren.
Heinrich August Ottokar Reichards Malerische Reise durch einen grossen Theil der Schweiz von 1805 ist mit 56 Kupferstichen illustriert, einer davon ist mit «Morgarten am Aegeri-See» betitelt.160 Heinrich Füssli zeichnete ein alleinstehendes Holzhaus an einer Seebucht und locker bewaldete Berghänge im Hintergrund. Am linken Bildrand ist ein Uferweg zu sehen. Reichards Variante lehnte sich nahe an die kolorierte Radierung des Basler Künstlers Achilles Benz an, die 1796 in Heinrich und Johann Heinrich Füsslis Merkwürdige Gegenden der Schweiz erschien.161 Die Radierung liefert die Sehanleitung für Morgarten mit: Der Bildbetrachter schaut einer am Boden sitzenden Frau und ihrem Begleiter mit Hut und Spazierstock, der Richtung See und Haus deutet, über die Schultern. Sie lenken den Blick auf die Sehenswürdigkeit, zeigen den touristischen Blick und fordern den Bildbetrachter auf, sich an ihre Stelle zu begeben.163 Zwei Männer spazieren, leicht vom Schilf verdeckt, rechts vom Haus dem Uferweg entlang. Die Zeichnung zeigt keine Bezüge zur Schlachtgeschichte. Der Ort Morgarten, den man spazierend besuchen sollte, ist ein sehenswürdiges ländliches Idyll.
Abb. 6: Der Kupferstich Morgarten, am Aegeri-See (1794) beruht auf einer nicht erhaltenen Zeichnung des Historienmalers (Johann) Heinrich Füssli und wurde von Heinrich Meyer radiert.
Abb. 7: Das Haus auf der kolorierten Radierung Morgarten au lac d’Ageri / Canton de Zug (1797) von Heinrich Füssli (Zeichner) und Achilles Benz (Radierer) entspricht laut Rolf E. Keller dem realen Haus Schranggen am Ägerisee.162 Beide Radierungen erschienen in Publikationen, die sich an eine touristische Käuferschaft richteten.
Abb. 8: Der Kupferstich des französischen Malers Nicolas Perignon erschien als Illustration im Buch Tableaux topographiques von Beat Fidel Anton Zurlauben von 1780.
Abb. 9: In der dreizeiligen Legende zu seiner Schlachtdarstellung von 1788 beschrieb Lorenz Ludwig Midart die «Bataille de Morgarten» als doppelten Sieg der drei Waldstätte über den Herzog Leopold «Duc d’Autriche». Dieser sei sowohl in Morgarten als auch bei Alpnach geschlagen worden, wobei er 1500 Männer verloren habe, während die Sieger – nur 1300 an der Zahl – 51 Tote zu beklagen gehabt hätten. Den Schlachtverlauf erzählt Midart nach Ägidius Tschudi, so erwähnt er 50 Steinwerfer an einer engen Wegstelle neben dem Ägerisee.
Auch auf einem Stich, den der französische Hofmaler Nicolas Perignon vor 1780 herstellte, erscheint Morgarten als ländliches Arkadien. Perignons Stich zeigt eine hügelige Voralpenlandschaft ohne Bezug zur Region – nicht einmal das Hauptmotiv von Morgarten, ein See, ist abgebildet. In der Bildlegende wird die Kapelle St. Jakob an der Schornen erwähnt, die aber nirgends zu sehen ist. Wiederum sitzen hingegen die Besucher mitten in der Landschaft und markieren über ihre Schultern die Ansicht. Am Horizont der idyllischen Landschaft ist die Alpenkette zu sehen.164
Schlachtfelder seien immer auch imaginierte Räume, die von Literatur, Kunst und anderen Medien «nicht mimetisch abgebildet, sondern konstruiert» werden, betonte der Historiker