und geschlafen habe, erzählen Reiseberichte hingegen, um den Eindruck von subjektiver Wahrhaftigkeit – dass man es wirklich erlebt hat – zu erzeugen.74
Bridel schiebt daraufhin die Worte eines Sennen, eines Bauern und eines Greisen ein, die sich mit ihm unterwegs über die Französische Revolution unterhalten hätten – allegorische Figuren der Schweizer Einfachheit im Naturzustand, wie sie auch Albrecht von Haller in seinem Alpen-Gedicht von 1729 besungen hatte. In einer Fussnote betont Bridel den Zeitpunkt seiner Reise: «Der Leser muss übrigens nicht vergessen, dass hier vom Julius 1790 die Rede ist.»75 Zur Französischen Revolution stand Bridel in einem ambivalenten Verhältnis. Er gehörte zu einer Bewegung des Aufklärungs- und Reformpatriotismus, des Helvetismus.76 Im 18. Jahrhundert versuchten vor allem Westschweizer und Zürcher Literaten durch eine gemeinsame schweizerische Nationalliteratur eine patriotische Begeisterung zu wecken. Bridel sah, so schreibt der Historiker François de Capitani, in der «gemeinsamen Natur und Geschichte» die Grundlage dieser Nationalliteratur.77 Nur: Was verstand man unter der «gemeinsamen Natur und Geschichte»? Der «wahre Helvetier» und das «Helvetische», nach welchen Bridel auf seinen Fussreisen in abgelegenen Tälern suchte, entsprachen einem Idealbild der Schweiz, das auch die aufklärerischen Reisenden beschrieben und sehen wollten.78 Der Helvetismus verherrlichte die Alpenbewohner als besonders tugendhaft und republikanisch. Die Französische Revolution war in den Augen Bridels nicht nur gefährlich, sondern für den «ursprünglicheren» schweizerischen republikanisch-föderalistischen Naturzustand der unverdorbenen Bergbewohner unnötig.
In Unterägeri bezahlt Bridel einem Mann, der einen für den Ägerisee typischen Einbaum besitzt, «bloss zwei Batzen», dass dieser ihn zum Schlachtfeld nach Morgarten übersetze.79 Die Ufer des Ägerisees, «eines sehr lachend, das andere hingegen wild und melancholisch», entsprechen der zeitgenössischen Vorliebe für abwechslungsreiche Landschaftseindrücke – für das Pittoreske. Angekommen am Schlachtort Morgarten, wendet sich Bridel pathetisch an die «Schatten der grossmüthigen Streiter aus den drei Ländern», deren «Gedächtnis an diesen Stätten, den Zeugen Eurer Heldentaten», man segnen müsse: «Andenken an die Vorzeit, entflamme, wie noch nie, meinen gerührten Geist!»80 Bridel stellt den Besuch des Schlachtorts als eine sinnliche und emotionale Erfahrung dar, die nur in ihm selbst stattfindet. Das Boot setzt ihn an einem reinen Erinnerungsort ab, über dessen Aussehen in der Gegenwart der Leser nichts erfährt. Wichtig für Bridels Schilderung ist das antitouristische Motiv der Einsamkeit.81 Bridel reist offenbar alleine und stellt seine Rührung ins Zentrum des historischen Orts, der so zu einer Bühne für seine Gefühle wird. Das Schlachtfeld ist kein konkreter, sondern ein imaginierter Ort, der stark mit seinem Vorwissen und seinen Gefühlen verbunden ist.
Romantische Motive prägen Bridels Vorstellungen, was er auf dem Schlachtfeld von Morgarten fühlt und erkennt. Er spricht von Stätten und der Landschaft als Zeugen der Geschichte von Morgarten. Die zentralen Motive in seinem Geschichtsbild sind jene der Freiheit und des gemeinsamen Ursprungs im Mittelalter. So wie der Ort Zeuge der Geschichte ist, verleiht sich Bridel als «Zeuge des Zeugen» die exklusive Autorität, Erkenntnisse zu haben, die nur Besucher des Orts haben können. Mehrere Geschichtsschreiber hätten, «weil sie das Lokal nicht selbst besucht haben», «ziemlich bedeutende Fehler» in der Schlachtgeschichte gemacht – im Gegensatz zu seiner Version von 1788.82 Die aufklärerische Forderung nach dem eigenen Denken umfasst auch das eigene Sehen und Fühlen. Die Wahrnehmungstheorie des Pittoresken verspricht darüber hinaus, dass man einen Teil sehen und das Ganze fühlen könne.83
Von Morgarten wandert Bridel weiter über Sattel nach Steinen, wo er Werner von Stauffacher, einem der drei Schwurmänner vom Rütli, huldigen will. Anstelle von Stauffachers Wohnhaus findet Bridel eine Kapelle, deren Fresken gerade restauriert werden. Bridel bewertet die Machart der Bilder zwar als «sehr mittelmässig», ihre Inhalte und Wirkung als volkspädagogisches Mittel der Geschichtsvermittlung jedoch als sehr stark. Die «edeln Gefühle» und die «tiefe Rührung», die diese Bilder in jedem wecken würden – das sei «unstreitig die beste Art, das Volk, seine Geschichte kennen zu lernen».84 Wie so oft und wie viele andere kratzt Bridel vergnügt und stolz seinen Namen in die Kapellenmauer ein und bezeugt so seine «Pilgerschaft zu diesen heiligen Oertern».85 Bridel evoziert nicht nur Geschichte, er schreibt sich auch gewissermassen selbst in sie hinein: Ich war hier.
Die Selbstdeklaration als Pilger oder Wallfahrer zu einer historischen Stätte war nicht selten, sie verlieh der Reise zusätzliche Bedeutung und Legitimation. Der Geistliche Bridel wendet eine sakrale Sprache auf die historischen Stätten an, die er als «heilige Orte» bezeichnet. Pilgern war um 1790 offenbar eine positiv konnotierte Form des Reisens. Im Vorwort seines «Tagebuch einer Fussreise durch das Innere der Schweiz» schreibt Bridel, dass man am besten zu Fuss unterwegs sein solle, abseits der grossen Strassen, einfach gekleidet, ohne Anspruch auf Komfort, allein oder mit einem gleichgesinnten Freund – ganz wie ein Pilger. Der Beginn des touristischen Zeitalters wird auf den Aufbau der beschleunigten und vergünstigten Reiseinfrastruktur (Eisenbahnen, Strassen) zurückgeführt. Dennoch gehörte das Lob der Fussreise in Reiseberichten und Reiseführern, beispielsweise auch im Baedeker, im gesamten 19. Jahrhundert zum Selbstverständnis. Auch die ersten Touristen wollten bereits keine sein. Dieses Distinktionsspiel biss sich nicht damit, dass Johann Gottfried Ebel dem «freien» Fussreisenden empfiehlt, einen Gepäckträger für die ganze Reise zu buchen, so wie er sich immer von Herrn Pfister aus Zürich begleiten lasse, einem Bediensteten, der nicht nur sein Gepäck trage, sondern auch die Wege kenne, über Preise verhandle, ihn frisiere und rasiere sowie Italienisch und Französisch spreche.86
Woher nahm Philippe-Sirice Bridel seine Kenntnisse der Geschichte und Geografie? Neben den älteren Beschreibungen der Schweiz – er erwähnt Johann Jakob Scheuchzer – kannte Bridel auch die Reisebeschreibungen seiner Zeit, von denen er jene von ausländischen Reisenden ablehnte, weil sie das oberflächliche Produkt eiliger Reisen entlang der gängigen Reiserouten seien. Bridel beschreibt jedoch «sein» Helvetien mit den romantischen und aufklärerischen Motiven und Geschichtsbildern, die er mit jenen Autoren gemeinsam hat, deren Beschreibungen der Schweiz er im selben Atemzug als «literarische Invasion» ablehnt.87 Er schreibt also in einer doppelten Selbstausnahme: Er distanziert sich von nicht-schreibenden Reisenden, aber auch von allen anderen schreibenden Reisenden, die nicht auf seine Art ihr «eigenes» Land bereisen.
Beeinflusst wurde Bridel auch durch ortskundige Gelehrte, die er unterwegs besuchte, wie beispielsweise den Arzt und Politiker Karl Zay (1754–1816) in Arth. Zay gehörte zu jenen gut vernetzten, angesehenen und gebildeten Persönlichkeiten, die Reisende privat empfingen. Er soll auch häufig Reisende auf die Rigi begleitet haben.88 Mögliche Gründe für dieses vermutlich unentgeltliche Engagement sind die Pflege des Netzwerks und des repräsentativen Status in seinem Wohnort, eine Vorliebe für Ausflüge und wohl auch Neugierde.
Bridels Reisebericht ist ein Beispiel für den romantisch geprägten Aufklärungspatriotismus um 1800, dessen Geschichtsbild von Reiseberichten geprägt wird. Es war Bridels grosses Bildungsprojekt, die Schweiz zu Fuss kennenzulernen, die Topografie, die Bevölkerung, die Eigenheiten der Regionen und die Verhältnisse vor Ort. Allerdings war Bridel der Meinung, dass man beim Reisen auch viel falsch machen könne, beispielsweise zu wenig (oder die falsche) Vorbildung mitbringen oder auf die falsche Weise an die falschen Orte reisen. Deshalb formulierte Bridel, wie viele andere Reiseschriftsteller, Ideale, wie man «richtig» reisen sollte – ebenfalls ein Ausdruck von Distanzierung. Diese Ideale geben Einblick in seine Vorstellungen, wie man auf vaterländischen Reisen Geschichte kennenlerne.
Wie man sein «eigenes» Land richtig bereist
1796 hielt Bridel vor den versammelten Mitgliedern der Helvetischen Gesellschaft in Aarau den Vortrag «Versuch über die Art und Weise, wie Schweizerjünglinge ihr Vaterland bereisen sollten».89 Bridel empfiehlt darin, die Schweizerreise nicht vor dem 16. Lebensjahr zu machen, weil ein ausgiebiges Studium der Geografie, Geschichte und der politischen Lage für die Reise notwendig sei. Die Methode Conrad Gessners, jedes Jahr einen Monat lang einen Teil der Schweiz zu erkunden, halte er für das Beste, aber im Rahmen des Möglichen sei eine Reise von sechs bis acht Wochen im Sommer