Begriff des touristischen Geschichtsgebrauchs basiert auf dem Konzept der «Gebrauchsgeschichte» des Historikers Guy P. Marchal.8 Marchal versteht darunter die vielfältige Nutzung von Geschichte.9 Schweizer Gebrauchsgeschichte ist von Vorstellungen des Mittelalters geprägt, wie Marchal am Geschichtsbild der «Alten Eidgenossen» zeigt, welches zwischen dem 15. Jahrhundert bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs immer wieder umgedeutet wurde. Ein Geschichtsbild ist ein gesellschaftlich geteilter Vorstellungskomplex, den Marchal als «Historiengemälde im Kopf»10 beschreibt. Geschichtsbilder lösen, wenn sie aufgerufen werden, bei ihren Trägern Gefühle und Assoziationen aus und sind einem ständigen Veränderungsprozess unterworfen. Dabei ist es gemäss Marchal nicht etwa die Geschichtsforschung, welche diese Veränderungen hervorruft, sondern die allgemeine Befindlichkeit der Gesellschaft, also deren soziale, kulturelle, politische und ökonomische Situation.11 Dazu gehört auch der Tourismus.
Der Historiker Roger Sablonier schreibt, dass die traditionellen eidgenössischen Geschichtsbilder nach 1848 und besonders nach 1891 «als eigentliche Kulturgeneratoren» gewirkt hätten: in «Erinnerungsorten und Denkmälern, in der musealen Konservierung und Präsentation, sogar in der Rekonstruktion historischer Landschaften».12 Eine patriotische Kulturtätigkeit habe in Festspielen, Bilderbüchern und Postkarten ihren Ausdruck gefunden, wobei literarische Werke für die Vermittlung eine grosse Rolle gespielt hätten. Obwohl die meisten Kulturprodukte, die Sablonier aufzählt – Erinnerungsorte, Denkmäler, Museen, Landschaften, Festspiele und Postkarten –, auch Produkte eines touristischen Anverwandelns von Geschichte sind, ist die Präsentation von Geschichte im touristischen Kontext und die Nutzung der Geschichte vor Ort in der Forschung zum Geschichtsgebrauch weitgehend ein blinder Fleck geblieben.
Touristischer Geschichtsgebrauch
Wirtschaftlich orientierter Geschichtsgebrauch ist in den letzten zehn Jahren vermehrt zu einem Thema der Geschichtswissenschaften geworden. Ein Beispiel ist das von Wolfgang Hardtwig und Alexander Schug 2009 herausgegebene Buch History sells!, in welchem zwar touristisch orientierte Angebote thematisiert, jedoch selten so benannt werden.13 Hardtwig und Schug wenden den Begriff der «Aufmerksamkeitsökonomie» auf die Geschichtswissenschaft an und äussern Bedenken, wie die Geschichtsschreibung damit umgehen könne, dass Unterhaltung zu einem Hauptantrieb der Auseinandersetzung mit Geschichte werde.14 Seit den 2000er-Jahren wird auch der Begriff «Geschichtsmarkt» verwendet, um die ökonomisch gewinnbringende Präsentation von Geschichte zu bezeichnen.15
Im Buch Vergangenheitsbewirtschaftung, das Christoph Kühberger und Andreas Pudlat 2012 herausgegeben haben, schreiben mehrere Autoren explizit über Tourismus, allerdings mit einem starken Fokus auf touristische Angebote zur Geschichte des 20. Jahrhunderts, beispielsweise zur Berliner Mauer.16 In den Beiträgen von Sibylle Frank zur Berliner Mauer und von Hanno Hochmuth zum Berlin-Tourismus kommen unterschiedliche Positionen zur Sprache. Frank appelliert an eine vorurteilsfreie Auseinandersetzung der Historiker mit touristisch-wirtschaftlich orientierter Geschichtsvermittlung und plädiert für ein staatliches Engagement in diesem Bereich: Das touristische Feld dürfe nicht profitorientierten Angeboten überlassen werden.17 Hochmuth spricht im selben Band der touristischen Geschichtsvermittlung zu, lehrreich und unterhaltsam zu sein, aufklärerisch zu wirken und zur politischen Bildung beizutragen. Er kritisiert hingegen Präsentationen, die Geschichte dramatisieren und so den Besucher «überwältigen» würden.18 Zeitgeschichte steht bislang im Fokus von Studien, welche Public History, das heisst nicht-akademischen Geschichtsgebrauch untersuchen.19 In der Forschung zu touristischen Darstellungen des Mittelalters werden weniger Fragen staatlicher Steuerung oder aufklärerischen Nutzens diskutiert, als vielmehr der Gebrauch im Sinne einer «Living History» beispielsweise an Mittelaltermärkten.
Der Gebrauch von Geschichte im Tourismus wurde bislang in mehreren kleinen Studien untersucht. Der Tourismushistoriker John K. Walton verwies 2009 darauf, dass touristische Destinationen ihre Geschichte – das heisst, spezifische Versionen von ihr – als besonderes Merkmal und Verkaufsargument vermarkten würden. Walton untersucht «the ways in which tourism itself tries to use history, through marking, marketing and exploitation of traces, stories, heritage, authenticity, and, ultimately, distinctiveness».20 «Marketing», «traces», «stories», «heritage», «authenticity» – Forscher, die sich mit dem Gebrauch von Geschichte für Touristen befassen, arbeiten mit Begriffen, die einer Erklärung bedürfen. Wie wurde in bisherigen Studien zum touristischen Geschichtsgebrauch der Untersuchungsgegenstand bezeichnet? Ian McKay und Robin Bates konstruierten in ihrem Buch The Province of History von 2010 den Begriff «tourism/history», den sie als «new kind of history» und Nachfolger des Begriffs «heritage» beschreiben.21 1990 prägte Regina Römhild den Begriff «Histourismus».22 Bernd Mütter veröffentlichte 2009 die Monografie HisTourismus. Geschichte in der Erwachsenenbildung und auf Reisen, die sich damit befasst, wie man auf Reisen Geschichte lernen kann.23 Der Begriff «Histourismus» hat sich jedoch nicht durchgesetzt, und er bietet auch keine Ansatzpunkte für dieses Buch, weil er konzeptionell den Tourismus als Maschine versteht, die das Material lediglich filtert, aber mögliche Wechselwirkungen nicht in Betracht zieht. Besser etabliert hat sich der Begriff des «Histotainment», der die Kombination von Geschichtsvermittlung und Unterhaltung verspricht. Allerdings wurde auch dieser wiederholt kritisch diskutiert.24
In neueren Publikationen ist die Wortbildung «Geschichtstourismus» anzutreffen25 – ein Begriff, den jedoch auch die Anbieter selber benutzen. Als analytischer Begriff wenig geeignet ist er auch, weil er nicht dazu auffordert, nach Akteuren zu fragen und zwischen Produzenten und Rezipienten zu unterscheiden.
Dieses Buch verwendet die Formulierung «touristischer Geschichtsgebrauch», deren Vorteil darin besteht, dass die touristische Form des Geschichtsgebrauchs mit anderen Formen gut vergleichbar ist. Dies ist wichtig, weil Geschichte oft mehrfach motiviert gebraucht wird, sodass beispielsweise sowohl politische als auch touristische Interessen der Akteure einen Geschichtsgebrauch bestimmen. Den «rein» touristischen Geschichtsgebrauch gibt es möglicherweise nicht.
Erinnerungskulturen und -orte
Ein Ausgangspunkt dieses Buches ist die Feststellung, dass in den Debatten zu Erinnerungs- und Gedächtniskulturen der Tourismus ignoriert oder als «negative Kontrastfolie»26 behandelt wird. Erinnern ist edel, Tourismus vulgär oder banal. Bezeichnend dafür ist, wie der Historiker Pierre Nora, der das Konzept der «Lieux de mémoire» begründete, das Wort «touristisch» benutzt. Im Vorwort zu Lieux de mémoire schreibt er, dass das französische Nationalgefühl nicht mehr «auf das Opfer, den Trauerkult und die Abwehr nach aussen bezogen» sei, sondern «zunehmend geniesserisch, neugierig, man könnte fast sagen, touristisch» werde.27 «Touristisch» umschreibt eine neue vergnügliche und individualistische Form des Nationalgefühls oder – in Noras Verständnis – der Geschichtskultur. Dennoch wird Tourismus in der Folge nur am Rand behandelt.28
In diesem Buch wird mehrheitlich dasselbe Quellenmaterial untersucht wie in Forschungen zur Erinnerungskultur. Die materielle Dimension der Erinnerungskultur ist auch für den touristischen Geschichtsgebrauch wichtiges Quellenmaterial. Sie besteht sowohl aus Objekten und kollektiven Handlungen, die Geschichtsbilder transportieren, wie Denkmälern oder Gedenkfeiern, als auch aus Gegebenheiten, die symbolisch aufgeladen und zu Medien von Geschichtsbildern gemacht wurden.29 Dieses Buch wählt jedoch einen anderen Zugang zu diesem Quellenmaterial und geht davon aus, dass sich das Ausstatten eines Orts mit Besucherangeboten und das Besuchen eines Orts vom Gebrauch eines Orts zur Evokation von Geschichte unterscheiden kann. Auch Konflikte zwischen verschiedenen Formen des Geschichtsgebrauchs sind möglich.
Wie stellen neue Präsentationsformen Geschichte dar?
Als Letztes ist auf eine aktuelle Diskussion über die gegenwärtigen Veränderungen in der Vermittlung und Wahrnehmung von Geschichte zu verweisen. Wolfgang Hardtwig und Alexander Schug schreiben in History Sells! in Bezug auf «Histotainment», dass die mediale Geschichtsinszenierung dramatisiere, personalisiere und vereinfache. Sie präsentiere «lineare, chronologische