zugeordnet wurden (von links oben): ein Kästchenbeschlag mit Rosette, zwölf Silberpfennige aus dem 13. Jahrhundert, der Radsporn eines Reiters, zwei Pfeilspitzen, ein Ortband, zwei Dolche, ein Messer, eine Gürtelschnalle und ein Mondsichelhufeisen.1
Abb. 2: Einer der drei «Helden von Morgarten» aus Holz, die am Volksfest im Juni 2015 in der Mitte des Festgeländes in Oberägeri standen.
Abb. 3: Mit Hellebarde, Hirtenhemd und ernster Miene vor der Kulisse des Ägerisees – der «Festführer» zum Volksfest vom Juni 2015.
20. Juni 2015. Am Informationsstand des Volksfests liegt der Festführer zum Mitnehmen auf, eine umfangreiche Broschüre mit grossem Inseratenteil. Die Fotografie auf der Titelseite zeigt einen ernst blickenden Mann mittleren Alters, der beim Ägerital, etwas oberhalb der Ortschaft Morgarten, steht. Er trägt ein weisses Hirtenhemd und hält eine über die Schulter gelegte Hellebarde. Im Hintergrund färbt ein leichtes Abendrot graue Wolken ein. In der Broschüre erläutern Politiker die «Besinnung auf unsere Schweizer Wurzeln» (ein Bundesrat), «Geschichte zum Erleben» (zwei Regierungsräte) oder das «historische Ereignis» (ein Gemeindepräsident), und es wird ein «Zusammenstehen und Zusammenhalten» beschworen (ein zweiter Gemeindepräsident). Wir könnten aus unserer Geschichte lernen, heisst es weiter, nämlich wer wir seien und wie wir unsere Zukunft zu gestalten hätten.
21. Juni 2015. Während ich am Dorfrand von Oberägeri bei kühlem Wetter den Umzug anschaue, von dem mir vor allem die alten Traktoren in Erinnerung bleiben werden, geht mir die Aussage des Historikers Bruno Meier durch den Kopf. Meier weist in der NZZ am Sonntag vom 21. Juni 2015 auf eine Ambivalenz beim neu gebauten Morgarten (im Weiler Schornen) hin. Zwar würde die neue Besucherinfrastruktur den neusten Forschungsstand vermitteln, und beim neuen Ensemble seien auch nicht, wie beim Rütli und der Hohlen Gasse, patriotische Aufwallungen gestaltgebend. Morgarten werde aber eher nach touristischen Gesichtspunkten aufgerüstet, so Meier, und die neugebaute Landschaft zementiere damit die traditionellen Vorstellungen. Stimmt es, dass das neue Ensemble Geschichtsbilder bestätigt, obwohl das Informationszentrum diese in Frage stellt? Und wie verändert die touristische im Gegensatz zu einer patriotisch-politischen Ausrichtung die Gestaltung der Denkmaltopografie Morgarten?
15. November 2015. Bei obligat kühl-regnerischem Novemberwetter findet der Schlachtfeiertag mit den üblichen Festelementen statt: einem Marsch von Sattel zur Schlachtkapelle, einem Gottesdienst in der Schornen – es spricht der Armeechef – und dem «Morgartenschiessen» beim Denkmal. Auf dem Umzug zwischen Sattel und Schornen spricht mich ein Herr mittleren Alters an: «Sind Sie von der Presse?» Ich falle als Frau ohne Begleitung an Morgartenanlässen auf. Wir spazieren nebeneinander zur Schlachtkapelle und unterhalten uns über neue Bücher zur Schweizer Geschichte.
Januar 2016. Die Archäologen des Kantons Zug veröffentlichen ihren Forschungsbericht über die Fundstücke. Sie ordnen die Funde als aufschlussreich, aber ohne zwingenden Zusammenhang mit der Schlacht ein. Die Medien berichten in kleinen Artikeln. Das Gedenkjahr ist vorbei.
Wahrscheinlich wird man nie belegen können, wo genau die Schlacht am Morgarten stattgefunden hat. Den historischen Ort Morgarten gibt es dennoch. Es gibt sogar mehrere historische Orte Morgarten. Sie werden von vielen Akteuren gestaltet, verändert und werden gerade auf diese Weise zu echten historischen Orten – indem sie genutzt, abgebildet und Teil von persönlichen Erlebnissen werden.
«Wie eine lebendige Urkunde» – Fragestellung
Ungefähr im Jahr 1895 ereilte den Wirt und Politiker Karl Bürkli am Ägerisee eine Offenbarung. Mehrmals war Bürkli an diesen Ort gereist, ein Pilger mit sozialistischer Gesinnung auf den Spuren der Alten Eidgenossen. An der Schlacht am Morgarten begeisterte den damals 72-jährigen Bürkli die Vorstellung von demokratisch gesinnten Urschweizern und von Verbannten, die dank ihrem entscheidenden Einsatz Gnade erlangen. Doch die Schlachtberichte hatten nicht hergegeben, was er nun im Terrain, einen Doppelmeter in der Hand, in «voller Klarheit» vor sich sah: das Bild der Schlacht – und den einzig richtigen Standort für ein Denkmal. So sehr man die Erkenntnisse aus Bürklis Offenbarung anzweifeln kann, ihr Mittel erfreut sich bis heute ungebrochener Zustimmung: Der Besuch von historischen Orten als huldigende Pilgerfahrt, als kritische Untersuchung vor Ort, als wissenschaftliches Argument und als touristischer Ausflug. «Wie eine lebendige Urkunde», hält Bürkli fest, so könne man aus dem Terrain die Geschichte lesen und die Schlacht sehen.2
Die Schlacht am Morgarten von 1315 hat in der nationalen Geschichtsschreibung und Geschichtskultur der Schweiz eine wichtige Rolle gespielt. Das Reise- und Ausflugsziel «Schlachtfeld» war bis weit ins 20. Jahrhundert hinein stark national und militärisch aufgeladen. Für die Feierlichkeiten zum 700. Jahrestag der Schlacht am Morgarten im Jahr 2015 wurde die Region, die bereits seit über 200 Jahren als Schlachtfeld von Morgarten besucht wurde, mit neuen Besucherangeboten ausgestattet. Welche Motive haben das Schlachtbild geprägt und wie haben sie sich verändert? Wie wurde die Schlacht am Morgarten im 19. und 20. Jahrhundert vor Ort präsentiert und gebraucht? Welche Angebote wurden für Touristen gemacht oder von Touristen genutzt?
In diesem Buch geht es um die Geschichte eines historischen Orts. Bezeichnungen für Orte, an denen historisch bedeutsame Ereignisse stattgefunden oder an denen solcher Ereignisse gedacht wird, waren und sind vielfältig. In der Tourismuswerbung sind gegenwärtig Begriffe wie «Schauplatz der Geschichte», die das visuelle Erlebnis ansprechen, verbreitet. Der Begriff «Schauplatz» ruft ebenso wie der Begriff «Stätte» eine bedeutungsvolle Ereignisgeschichte hervor. Geschichtsdidaktiker wählen hingegen oft die Bezeichnung «historischer Ort», weil diese geografisch weiter gefasst ist als «historische Stätte». Der Begriff «Stätte» wiederum lädt den Ort mit einer sakralen Verehrung auf.3
Das Historische an einem «historischen Ort» ist nicht auf ein Ereignis begrenzt, sondern schliesst auch die Inszenierung von Geschichte an diesem Ort ein.4 Die Bezeichnung «historisch» ist eine Zuschreibung und weist auf einen Geschichtsgebrauch hin, der sich auf den Ort bezieht oder an diesem stattfindet. Wie, von wem und mit welchen Inhalten wurden historische Orte in der Vergangenheit und in der Gegenwart ausgestattet?
Es geht hier auch um das Verhältnis zwischen Tourismus und Geschichte. In einem weit gefassten Verständnis ist Tourismus ein kulturelles Phänomen und eine Dienstleistungsindustrie, die im Kontext ihrer Zeit steht. Der Besuch von historischen Orten kann als eine Form von Tourismus verstanden werden. Die Begriffe «Tourismus» und «Touristen» werden in diesem Buch nicht wertend, sondern beschreibend genutzt. Dienstleistungsangebote, die für Touristen hergestellt werden, werden unter die Lupe genommen: Von Transportmitteln und Unterkünften über Postkarten, Reiseführer, Souvenirs und Erinnerungsbilder bis hin zu Veranstaltungen. Der Tourismus wird hier also über seine Angebote wie auch über seine Praktiken untersucht.
Wer sind Touristen? Die Touristin oder der Tourist sind Rollen, in die man schlüpfen kann.5 Personen schlüpfen in die Rolle von Touristen, indem sie sich in ihrer Freizeit an einen Ort begeben, wobei ihre Nachfrage oder ihr potentielles Interesse bewirkt, dass Akteure eine Infrastruktur für sie aufbauen. Bereits die Möglichkeit, dass Touristen einen Ort besuchen könnten, beeinflusst dessen Gestaltung und Darstellung. Felix Girke und Eva-Maria Knoll nennen dies den «touristischen Schatten»: «Auch wo noch keine Touristen sind, denkt man an sie.»6 Ein imaginatives Einbeziehen von möglicher touristischer Vermarktung sei demnach omnipräsent und wirke auch transformativ nach innen, auf die Wahrnehmung der Akteure.7
In diesem Buch wird Tourismus als Imaginationsraum betrachtet, für den die Geschichte zentrale Inhalte bereitstellt und in welchem mit modernen Mitteln vormoderne Geschichte dargestellt wird. Mit der Einheit des Orts stellen Gestalter und Besucher ein besonderes räumliches Dispositiv her, um Geschichte zu evozieren und zu repräsentieren.
Geschichtsgebrauch