wachsen, steht ein Turm, vermutlich der Schornenturm. In der rechten oberen Bildecke sind eine Kirche und ein Haus zu sehen, womöglich das Dorf Sattel.
Bildtopos Morgarten?
Was macht nun den «Bildtopos» von Morgarten aus? Gemeinsame Motive der drei Chronikbilder sind: der See im Vordergrund mit Rittern und Pferden darin, ertrinkend oder fliehend (ein Sinnbild für den fallenden Hochmut); die Kampfhandlungen im Hintergrund auf einer Wiese mit Bäumen; die Lanzen sowie die Kennzeichnung einer Gruppe mit Kreuzen auf der Kleidung. Tschachtlan und Schilling verbinden die zugeordneten Fahnen, die roten Federn, Herzog Leopold und Narr Kuoni. Schilling und Stumpf haben das Motiv des Steinwerfens gemeinsam. Jeweils für ein Werk einzigartige Motive sind unter anderem die Burg (Schilling), der Turm (Stumpf) oder der fliehende Ritter (Stumpf).
Vergleicht man nun die Radierungen von 1800 mit diesen spätmittelalterlichen Chronikbildern, fällt auf, dass es keine vorherrschenden motivischen und gestalterischen Verbindungen gibt. Midarts Radierung knüpft zwar an die Bilderchroniken an, die Darstellung ist aber etwas verallgemeinert – kein Narr, keine Kreuze, keine Federn tauchen auf. Hauptmotive sind die Steinlawine und die ertrinkenden Ritter im See. Vermutlich waren die zwei ungedruckten Bilderchroniken um 1800 einem breiteren Publikum gar nicht bekannt, sondern wurden erst im frühen 20. Jahrhundert populär. Einzig Midart könnte sie als Mitglied des bischöflichen Hofs gekannt haben.
Abb. 12: Der Holzschnitt zur Schlacht am Morgarten in Johannes Stumpfs Chronik von 1547/48 wurde später als Einzelblatt vervielfältigt, mit Aquarellfarben koloriert und als Wandschmuck verkauft.181
Es waren andere Bildmedien, die den Bildtopos der Schlacht am Morgarten formten. Einem grösseren Publikum bekannt wurde ein Bildtopos zur Schlacht am Morgarten mit Druckgrafiken Ende des 16. Jahrhunderts, die Morgarten oft zusammen mit anderen Schlachten abbildeten.182 Im 16. und 17. Jahrhundert wurden zudem, teils in privatem Auftrag, Glasscheiben mit Darstellungen der Schlacht am Morgarten bemalt.183 Winterthurer Ofenmaler verwendeten im 17. Jahrhundert aus unbekannten Gründen gerne das Bildmotiv der Schlacht am Morgarten – drei Beispiele zeigen einen Nahkampf mit Speer und Schwert zwischen Fusskämpfern und Rittern vor steilen Felswänden.184 Laut Tomaschett komponierten die Ofenmaler vermutlich verschiedene druckgrafische Vorlagen zusammen. Ebenfalls im 17. Jahrhundert erschienen Druckgrafiken der Schlacht auf Neujahrsblättern.185
Von den Druckgrafiken, Scheiben und Ofenkacheln wanderte das Bild der Schlacht am Morgarten Ende des 17. Jahrhunderts auf die Aussenwände von Gebäuden. Die älteste erhaltene Monumentaldarstellung malte der Urner Zeugherr Karl Leonz Püntener 1719 für die Tellskapelle in Sisikon – ein Ausflugsziel.186 Die Stein- und Baumstammlawine wurde im 18. Jahrhundert allmählich zu einem festen Bestandteil des Bildtopos. Zu Beginn des Jahrhunderts tauchten zwei eher selten aufgegriffene Bildtopoi auf, die sich auf Chroniktexte stützen: die Rückkehr Leopolds nach Winterthur (1808) und der Pfeil des Hünenbergers (1809). Ende des 18. Jahrhunderts traten zwei weitere Topoi in Erscheinung: das Gebet vor der Schlacht (1786) und der Rat des alten Reding vor der Schlacht (1792). Im frühen 19. Jahrhundert wurde erstmals die siegreiche Heimkehr der Schwyzer (1809–1815), wie sie Tschudi beschrieben hatte, auf Leinwand gemalt – ein Topos, der im 19. Jahrhundert starke Verbreitung fand.187 Der Bildtopos zur Schlacht am Morgarten befand sich also um 1800 am Beginn seiner Verbreitung, Standardisierung und Auffächerung in mehrere Motive.
Rückblick: Die klassische Stelle Morgarten in Text und Bild, 1800
Die «klassische Stelle» Morgarten wurde bis 1830 nicht nur als Ort eines konkreten historischen Geschehens mit patriotischer Aufladung besucht, sondern auch als Idee – jener der «Freiheit», verstanden im Sinne des Freiheitsbegriffs um 1800, der in einer Ursprungserzählung in die mittelalterliche Geschichte um 1300 zurückprojiziert wurde. Das Motiv der Freiheitsschlacht ist bei Zschokke als «immaterieller Erinnerungsort» präsenter als die klassische Stelle selbst.188 Die romantischen Geschichtsinszenierungen werden durch die Historienmalereien an der Kapelle unterstützt, die vor Ort die gängigen Imaginationen des historischen Geschehens sichtbar machen.
Historisches Material im Sinne mittelalterlicher Überreste waren für eine klassische Stelle nicht notwendig, unverzichtbar war hingegen ein Narrativ. Homi K. Bhabha schrieb 1990 in Nation and Narration, dass die Nation eine Vorstellung sei, die in ihrem Konstruktionsprozess einer Erzählung (Narration) gleiche.189 Die Reiseerzählungen des 18. Jahrhunderts, so lässt sich daran anknüpfen, sind Imaginationen, die das nationale Selbstbild in einem Narrativ konstruieren, dabei performativ von der Nation sprechen und diese auch lokalisieren. In der Helvetischen Republik griffen die Propagandisten des neuen Bundesstaats die narrativen Idealbilder der Schweiz und der Schweizer aus der Reiseliteratur auf und verwendeten sie als nationaltypische Integrationsbilder. Historische Narrative waren zentral für den Prozess der Nationalstaatsbildung und wurden bereits durch die Reiseliteratur popularisiert, die entsprechende Motive aus populären Geschichtsdarstellungen, etwa von Tschudi und von Müller, übernahmen. Reiseschriftsteller erzählten diese mit einer performativen Rhetorik weiter: «Hier, wo ich jetzt stehe, haben unsere Väter…». So erzeugte die Reiseliteratur und ihr Konzept der «klassischen Stellen» eine Herkunftsgeschichte der Nation als Ort, zu dem sie eine Wahrnehmungsanleitung mitlieferte. Die «klassische Stelle», die «historische Stätte» blieb nicht ein Narrativ, sondern wurde zu einem realen Ort gemacht.
Die Schlacht am Morgarten und ihr Schlachtfeld wurden um 1800 auch ausserhalb von Reiseführern ins Bild gesetzt, etwa auf Druckgrafiken oder Fresken. Das zweite Unterkapitel fragte nach einer Motivgeschichte dieser Bilder, die zwar immer auch für den Besuch des Schlachtfeldes warben, aber auch zeitgenössische Vorstellungen spiegelten, wie die Vormoderne aussah. Die Illustrationen in den spätmittelalterlichen Bilderchroniken waren den Besuchern um 1800 wahrscheinlich kaum bekannt. Damit liesse sich erklären, weshalb die Radierungen von 1800 keine Anleihen an die Bilder von Tschachtlan und Schilling machten.
Eine Fahne und ihre Inszenierungen
Zwei Objekte und die 500-Jahr-Feier von 1815
Für Reiseautoren um 1800 war kein historisches Material notwendig, um die Vergangenheit zu evozieren. Gab es um 1800 überhaupt Material, das mit der Schlacht in Verbindung gebracht wurde? In der Zeitspanne von 1780 bis 1830 waren zwei Objekte bekannt, die der Schlacht zugeschrieben wurden: Die sogenannte Morgartenfahne und der Hünenberger Pfeil. Wie wurden diese Objekte in den 500-Jahr-Gedenkfeiern von 1815 in Schwyz inszeniert?
Nach dem Rückzug der französischen Truppen aus der Schweiz 1813 herrschten grosse innenpolitische Spannungen, die die Schweiz an den Rand eines Bürgerkriegs brachten. Am Wiener Kongress 1814/15 verhandelten Gesandte über die Neuordnung Europas und der Schweiz nach den Revolutionskriegen. Unter diesem diplomatischen Druck einigten sich die zerstrittenen Kantonsvertreter in der Schweiz im Sommer 1815 auf einen neuen Bundesvertrag, der einen losen Staatenbund von 24 souveränen Kantonen und Halbkantonen begründete. Der Bundesvertrag wurde am 7. August 1815 in Zürich feierlich beschworen.190
Wenige Wochen später, vom Sonntag, dem 24., bis Mittwoch, den 27. September 1815, feierte man während drei Tagen in Schwyz die 500-Jahr-Feier der Schlacht am Morgarten. Vom Programm der Feierlichkeiten geben die Quellen leicht abweichende Auskünfte. Zeichnet das Tagebuch des Schwyzer Pfarrers Joseph Thomas Fassbind, der dem Anlass mit gemischten Gefühlen gegenüberstand und dessen Tagebuch nur in einer Abschrift aus dem 19. Jahrhundert erhalten ist, ein zuverlässigeres Bild als der möglicherweise überholte Programmentwurf der vorbereitenden Kommission an den Regierungsrat?191 Am Montag, 25. September, sowie am Mittwoch und Freitag sei abends «ein dramatisches Spiel, oder die Morgarten-Schlacht, allemal treffliche Musik und Musik-Konzert» aufgeführt worden, schreibt Fassbind. Der Eintritt für das Drama habe 26 Dublonen betragen. Möglicherweise fanden auch ein Konzert und ein Schiessen statt – Fassbind spricht allgemein von «Schiessen, Comedien, Musik usw.»192 Der Kommissionsentwurf hatte für Dienstagmittag