nach 1521 in Schwyz, wo etwa die Familie Schorno im Jahrzeitbuch festhalten liess, dass einer ihrer Vorfahren im hohen Alter bei der Schlacht am Morgarten geblendet worden sei.245 Die Erzählung des alten Mannes, der geblendet wird, ist ein bekanntes Motiv zur Darstellung der Grausamkeit und Willkür tyrannischer und illegitimer Herrscher und aus der Geschichte des Vaters von Arnold von Melchtal bekannt.246 Auch die Zuger liessen in den 1470er-Jahren – der Kontext war laut Hugener die Niederlage in der Schlacht von Arbedo – ein neues Jahrzeitbuch schreiben, worin Morgarten an erster Stelle aufgeführt ist. Verwandte Gefallene erwähnten sie aber nicht, weil diese auf der «falschen» Seite gefallen wären und nicht zur neuen Bündnispolitik passten. Die führenden Innerschweizer Familien zogen also Geschichte heran, um die aktuelle politische Ordnung und ihre Stellung darin zu rechtfertigen und somit zu festigen. Hugener nennt diese Form des um 1500 gängigen Geschichtsgebrauchs «Verlängerung der Vergangenheit»: Die eigene Geschichte werde «entlang einer fast kanonischen Reihe von Schlachten» imaginiert.247
1521 beschloss der Rat von Schwyz, der Schlacht am Morgarten am 11. November zu gedenken. Im Jahrzeitbuch waren im Jahr des Beschlusses noch keine Gefallenennamen von Morgarten enthalten, diese wurden erst später eingefügt. Laut Hugener war der Auslöser für diese Renaissance von Morgarten die Schlacht von Marignano 1515, bei der Tausende eidgenössische Söldner ums Leben kamen. Das Gedenken an die siegreiche Schlacht von 1315 sollte helfen, die Verluste und die Niederlage von Marignano zu verarbeiten.248
Die 1521 eingerichtete Schwyzer Schlachtjahrzeit konnte sich jedoch nicht etablieren, weil die Obrigkeit die Feier zwar verordnet, aber ihre Finanzierung nicht geregelt hatte.249 Die eidgenössischen Schlachtengedenkfeiern wurden vom Spätmittelalter bis zur Helvetik mehrmals an zeitgenössische Kontexte angepasst und entsprechend verändert.250 In den 1820er-Jahren, nach dem Ende der Helvetischen Republik, wurden die Schlachtjahrzeiten wiederbelebt und auf eine neue Art gefeiert. Dabei wurde an die Gedenktradition des Spätmittelalters angeknüpft, die religiösen Inhalte jedoch zu patriotischen Reden oder, nach Georg Kreis, zu Festen zivilreligiöser Art umgedeutet, in denen weniger der Toten als der siegreichen Tat gedacht wurde.251 Neben dem lokalen Publikum richteten sich die Gedenkfeiern des 19. Jahrhunderts auch an einen überregionalen, teilweise nationalen Einzugskreis von Zuschauern. Die Funktion dieser neuartigen Gedenkfeiern war es, das Nationalbewusstsein zu fördern.252
Die Schlachtjahrzeiten fanden bis in die 1940er-Jahre in der Pfarrkirche von Sattel statt, die angeblich auf eine Stiftung der Schwyzer im Gedenken an Morgarten gebaut worden sei.253 1940 verlegte man die Gedenkfeier neu zur Kapelle in der Schornen, der sogenannten Schlachtkapelle. Zur Geschichte dieser Kapelle gibt es nur lückenhafte Angaben. Laut Annina Michel wurde sie 1603 «neu gebaut», man hielt aber in einer Urkunde fest, dass es eine Vorgängerkapelle seit 1501 gegeben habe.254 Dies würde Hugeners These von einer Renaissance des Schlachtgedenkens nach Marignano 1515 widersprechen. In der Literatur wird aber nirgends erwähnt, ab wann die Kapelle «Schlachtkapelle» genannt und mit Fresken zur Schlacht versehen wurde – sie ist zugleich auch eine Jakobskapelle am Pilgerweg. Gonzague de Reynold behauptet, die Kapelle sei 1520 mit einem entsprechenden Wandbild bemalt worden, ohne die Quellen für diese Jahreszahl anzugeben.255
Fazit
1795 erschien Carl Julius Langes Buch Über die Schweiz und die Schweizer, in welchem Lange eine Parodie auf den Reisediskurs über die Schweiz und die Reiseliteratur unter dem Titel Über die Kunst Schweizerreisen zu schreiben. Ein Fragment in Gesprächen einfügte. Im Dialog zwischen den zwei Personen A (Alp) und G (Gletscher) erklärt A (Alp) die «unwiderstehliche Kraft des Wörtchens da», auf die es in einer «Schweizerreise» als malerischem Text ankomme: «A (Alp): Ich meyne das kräftige Wörtchen da, das die Gegenstände so anschaulich verwirklicht.»256 Der historische Ort bietet, so suggeriert der Ratschlag, die Möglichkeit, rhetorisch über die Anschauung Wirklichkeiten zu schaffen. Lange parodierte in seinem Buch die malerische Schwärmerei jedoch als Rezept für erfolgreiche und nichtssagende Reiseberichte. Mit welchen Motiven, in Bezug auf welches historische Material und mit welchen Inszenierungen verbanden die Reiseliteraten den Besuch einer historischen Stätte?
Historische Stätten wurden um 1800 als «klassische Stellen» verstanden. Die Autoren führten meistens die Schlachtkapelle oder die Landschaft für die Verortung an. Diese Anhaltspunkte wurden auch als historisches Material im Sinne einer Ruine wahrgenommen. Die Reisenden und Verfechter des Reisens um 1800 verstanden den Besuch historischer Stätten als ein patriotisches oder auch national-pädagogisches Verhalten. Sie berichteten emphatisch von patriotischen Gefühlen, die sie vor Ort empfunden hatten. So gab die Reiseliteratur eine neue Art vor, wie patriotische Gefühle performativ ausgedrückt werden konnten: Formulierungen wie «Hier wars» oder «Hier wo ich jetzt stehe» tauchen immer wieder auf. Das Interesse der Reisenden an der Geschichte und ihren Stätten beeinflusste auch das Geschichtsbild der Schweiz. Dabei sorgte es im Falle von Morgarten für eine verstärkte nationale Lesart der Schlacht, die Reiseliteratur nutzte aber die Geschichte auch auf eine «globalisierte» Weise für eine internationale Leserschaft.257
Zeugen der Geschichte können sowohl die Stätte, deren Besucher, Bauten, die Landschaft oder historisches Material sein. Diese beliebig scheinende Zuschreibung erfüllt vermutlich die Funktion des Beglaubigens – es ist aber nicht klar, was diese Objekte bezeugen sollen. Den richtigen Ort, die wahre Geschichte oder das emphatische Verhältnis zwischen den romantischen Besuchern und dem Ort oder der Geschichte?
Vaterländische Bildungsreisen oder patriotische Wallfahrten waren idealerweise Wanderungen in einer Landschaft, die so etwas wie eine typisch nationale Landschaft darstellt – in der Schweiz etwa die Alpen. Die historischen Stätten wurden als besonders wirkmächtige Orte innerhalb einer Landschaft verstanden. Orvar Löfgren behauptet, dass der Wunsch des 18. Jahrhunderts nach dem Pittoresken und Sublimen die Fähigkeit des «historical daydreaming» entwickelt habe.258 Das historische Tagträumen werde möglich, indem Landschaft und Geschichte machtvoll verbunden würden: Hier, wo wir jetzt stehen, sind unsere Vorväter vor uns gestanden. Dies sei der magische Ort, um mit der nationalen Vergangenheit in Berührung zu treten.259 Doch wie wird diese Verbindung zwischen Landschaft und Geschichte hergestellt?
Um nochmals deutlich zu machen, dass der Blick auf die Gegend und ihre Geschichte unter anderem von und für Reisende geschrieben wurde, dient ein Beispiel aus der ausgehenden Frühzeit des Tourismus. Der aus Lyon stammende Genfer Kaufmann Louis Simond schrieb 1822 in seinem Buch Voyage en Suisse fait dans les années 1817, 1818 et 1819 über seinen Besuch des Rütlis und der Tellkapelle Folgendes: «Le lac, le roc, la chapelle bâtie sous les yeux de cent quatorze contemporains du héros, enfin la tradition existante dans le pays, ont tout à coup donné à Guillaume Tell la realité qui lui manquait.»260 Der See, der Fels, das im Angesicht von Zeitzeugen Tells gebaute Baudenkmal und die «Tradition» des Gedenkens hätten Wilhelm Tell auf einen Schlag die Realität verliehen, die ihm gefehlt hatte. Der konkrete Ort verleiht der Erzählung eine eigentümliche Konkretheit.
Simonds Voyage zeigt auch einen Wandel der Reiseführer in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Die historischen Ausführungen werden ausgelagert, entweder in separate Geschichtswerke oder, wie es Simond macht, in einen zweiten Band.261 Diese Auslagerung ermöglicht einen Gegentrend zu den knapper werdenden Einzeleinträgen in Reisehandbüchern wie dem Baedeker und sind zugleich Ausdruck eines grossen Interesses für Schweizer Geschichte – in Simonds Fall in der Westschweiz und sogar in Frankreich, dem Land der gerade wieder abgereisten Besetzer. Der Schriftsteller Karl Viktor von Bonstetten schrieb am 26. Juni 1822 an Heinrich Zschokke, man lese in Frankreich und auch in Genf «Simonds Reise durch die historischen Gefilde der Schweiz […] wie eine Geschichte des Monds».262
Mit der einsetzenden Industrialisierung des Tourismus ab 1830 werden die historischen Stätten mit Denkmälern und mit einer touristischen Infrastruktur versehen. Die anhaltend hohe Zahl an Besuchern bewirkt den Bau von Dienstleistungsangeboten, die sich spezifisch an – nun darf man das Wort brauchen – Touristen richten. Weil das Ägerital nicht an den grossen Reiserouten liegt, kommt dieser Prozess erst in den 1880er-Jahren in Gang.