Arlette Schnyder

Geschwistergeschichten


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       DIE RENTIERSTOCHTER WIRD LEHRERIN

      Caroline Wyttenbach kam 1854 als fünftes Kind der Marie Thormann und des Rudolf Wyttenbach von Bern zur Welt. Marie Thormann, deren Vater aus dem Berner Patriziat stammte, jedoch wegen einer Mesalliance die Schweiz verlassen hatte, wuchs in der elterlichen Erziehungsanstalt in Bonn auf.107 Rudolf Wyttenbach stammte ebenfalls aus dem Berner Patriziat, bekleidete verschiedene Ämter in der Stadtregierung und war Rentier auf dem Landgut «im Hölzigen Ofen» im Weissenbühl.108 Zu den zwei ältesten Brüdern und den zwei älteren Schwestern von Caroline gesellte sich nach einem Jahr noch ein Mädchen, Rosa. Diese Schwester sollte Caroline ein Leben lang in besonderer Weise verbunden bleiben.109

      Den ersten Unterricht erhielten die beiden jüngsten Mädchen zu Hause. Ein Zitat aus Rosa Walter-Wyttenbachs Lebenslauf macht sichtbar, dass insbesondere der Vater viel Zeit für den Unterricht der Kinder hatte: «Da er neben der Verwaltung des Landgutes nur wenige Geschäfte hatte, die seine Zeit in Anspruch nahmen, so widmete er sich beinah ausschliesslich uns Kindern. Er schaukelte uns oft auf den Knien, indem er die spassigsten Liedchen dazu sang; er erzählte uns auf Spaziergängen oder an langen Winterabenden Geschichten, er gab uns die ersten Unterrichtsstunden und wie und wo er uns eine Freude machen konnte, die uns in keiner Hinsicht schädlich war, so freute er sich am meisten darüber.»110

      Trotz dem in Bern 1835 durch das Primarschulgesetz eingeführten Schulzwang waren die Wyttenbach’schen Kinder vom Primarschulunterricht entbunden. Ihre Eltern hatten sowohl Zeit als auch die nötigen Qualifikationen, zu unterrichten. Dies war ein Privileg, war der Unterricht in den Primarschulklassen wegen fehlender Klassenbegrenzung und fehlender Minimalbesoldung des Lehrpersonals doch oft mangelhaft.111

      Die Sekundarschule besuchten Caroline und ihre Schwestern in der Stadt. Der Schulweg war ein abenteuerlicher Freiraum: «So erzählte uns unsere Mutter z. B. oft und gern vom Kriegsjahr 70, als ein Teil der Bourbaki-Armee, in die Schweiz abgedrängt, in entsetzlich verwahrlostem Zustand in Bern lag, und wie sie sich gefürchtet hätten vor den elenden Hunger- und Krankheitsgestalten, an denen sie vorbeizugehen genötigt gewesen waren.»112

      Der Zugang zur öffentlichen Schule bedeutete für sie nicht nur Ausbildung, sondern öffnete auch unbeaufsichtigte Freiräume, in welchen sie andere Welten entdecken konnten. «Den meisten bürgerlichen Mädchen boten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts allein der Schulweg und der Weg in die Klavierstunde eine kleine Möglichkeit, die Stadt zu erkunden. Hier zeigt sich die Institutionalisierung der Mädchenbildung in einer neuen Bedeutung.»113

      Die Wohnsituation auf dem grossen Landgut am Stadtrand und die Musse der Eltern verschafften den Kindern im Hause Wyttenbach relativ viele Freiheiten. So beschrieb die jüngste Schwester, Rosa, in ihrem Lebensbild der Jugendzeit ihrer älteren Schwester Julie, wie die Strafe bei einem Streich der etwas auffälligen Tochter «gelinde» ausfiel, auch wenn die Eltern dabei ihr ganzes Programm ändern mussten: «In der Schule fürchtete es [Julie, Anm. A. S.] sich ein wenig vor den gewandteren Mitschülerinnen und warb um ihre Liebe. So kam es, dass es einmal einige von ihnen einlud ins Wyssenbühl. Als die anderen davon hörten, bettelten sie auch mitkommen zu dürfen und so lud es schliesslich aus Gutmütigkeit die ganze Klasse ein, vergass aber der Mamma etwas davon zu sagen. Sie war daher nicht wenig erstaunt, als am nächsten schulfreien Nachmittag eine Menge festlich gekleideter Mädchen erschienen. Mit einem Festmahl konnte man ihnen nicht aufwarten, aber auf unserem schönen Gut gab es für Stadtkinder der Freuden genug und so zogen alle hochbefriedigt wieder heim und die Strafe für die kleine Julie, welche so viele beglückt hatte durch ihren Streich, fiel gelinde aus.»114

      Die Wyttenbach’schen Töchter hatten in der Schule eine Sonderposition: Eine Einladung auf das Gut war so attraktiv, dass die Mädchen auf eine Einladung Julies, die ein Sonderling und etwas zurückgeblieben war, sofort eingingen. Das fehlende Festmahl wurde nicht beanstandet, da das Gut an und für sich eine Attraktion für die «Stadtkinder» war. Die Mutter versuchte die Mädchen nach modernen Erziehungsvorstellungen, wie Rosa es beschrieb, «mehr mit Liebe als mit Strenge zum Gehorsam zu bringen. Sie liess uns viel Freiheit, und noch jetzt, da sie längst gestorben, hab ich’s von Verwandten bedauern und rügen hören, dass wir zu zügellos aufgewachsen seien.»115 So übten sich die Mädchen im Garten an Reck und Barren und spielten wilde Pferde.116 Diese Freiheiten nahmen mit dem Tod des Vaters Rudolf Wyttenbach ein schnelles Ende. Das Landgut musste verkauft werden, und die Witwe zog mit ihren Kindern in die Stadt, wo ein «würdiger aber strenger Vormund» die Familienangelegenheiten leitete.117 Von nun an war Sparsamkeit angesagt. So wurde den beiden jüngsten Töchtern Caroline und Rosa nach deren Konfirmation 1870 nahegelegt, «dass sie, um einst ihr Brot selbständig verdienen zu können, am besten den Lehrerinnenberuf ergreifen und in die Neue Mädchenschule, dem derzeitigen Seminar, unter Direktor Schuppli stehend, eintreten sollten. Der Schritt fiel den etwas verwöhnten Mädchen nicht gar leicht.»118

      Für die Töchter aus dem alten Berner Geschlecht, die eine privilegierte Kindheit erlebt hatten, war es gewöhnungsbedürftig, einen Beruf erlernen zu müssen. Hier hatte wohl der oben erwähnte strenge Vormund dafür gesorgt, dass das Familienerbe von den vier unverheirateten Töchtern nicht zu sehr strapaziert wurde. Während bei Töchtern des gehobenen Mittelstandes der Beruf der Lehrerin als eine gute Ausbildungs- und Berufsmöglichkeit galt, wurde eine Berufsausbildung für eine junge Dame der Oberschicht im ausgehenden 19. Jahrhundert als unschicklich angesehen.119 Dass der Eintritt ins Seminar den Mädchen nicht leicht fiel, wie im Lebenslauf betont wurde, mag damit zusammenhängen, dass sie sich mit diesem Schritt weg von den Privilegien der Oberschicht hin zum Mittelstand bewegten.

      Die Seminarzeit an der Neuen Mädchenschule wurde für Caroline zu einem Schlüsselerlebnis. Hier erlangte sie die nötigen Kenntnisse und Fertigkeiten für den Beruf der Lehrerin – wie es im Primarschulgesetz von 1835 verlangt wurde, «vorzüglich aber die für das weibliche Geschlecht unentbehrliche besondere Bildung des Gemütes und sittliche Richtung».120 Die «besondere Bildung des Gemütes» und die «sittliche Richtung» der jungen Frauen lagen dem langjährigen Vorsteher der Neuen Mädchenschule, Melchior Schuppli, besonders in Kombination mit einer soliden pädagogischen Ausbildung am Herzen. Die Frauen wurden im Seminar nicht zu schöngeistigen jungen Damen geformt, sondern sie lernten durch hartes Studium und einen durch Andachten und Gebete streng geregelten Tagesablauf diszipliniertes Auftreten als vorbildliche Lehrerinnen ihrer späteren Zöglinge. Das Motto Schupplis, das er auch über dem Neubau der Neuen Mädchenschule anbringen liess, lautete «ora et labora».121 Schuppli prägte das 1852 gegründete Seminar von 1869 bis 1894 nachhaltig. Wie Johannes Schnyder, aus einfachen Verhältnissen im Kanton Thurgau stammend, konnte er dank Unterstützungen das Lehrerseminar in Kreuzlingen besuchen: «Da lernte man Gottesfurcht, bescheidene, anspruchslose Arbeit, da atmete man den Geist Pestalozzis und lernte verstehen, dass die dienstwillige, aufopferungsfähige Gesinnung vor allem den guten Lehrer macht.»122 Schuppli wurde zunächst an die Sekundarschule Bischofszell berufen, danach an die Realschule in St. Gallen. Nach einem Abstecher als Direktor der Stickfabrik Rittmeyer in Bruggen, wo er gehofft hatte, «ein Stück sozialer Frage zu lösen»,123 wurde er an die Neue Mädchenschule in Bern berufen, wo er von nun an waltete. Unter Schuppli wurde der Neubau der Mädchenschule durchgeführt, das Seminar wuchs, es wurde eine Übungsschule im gleichen Schulhaus angelegt, wo die Lehrerinnen ihr Wissen in die Praxis umsetzen konnten. Er zeichnete sich aus als ein Pädagoge, der an das Gute im Kind glaubte: «Deshalb wollte er auch mehr Lob als Tadel angewendet wissen, und Strafen, besonders solche, die irgendwie das Ehrgefühl des Kindes herabsetzen konnten, waren ihm zuwider. Nie konnte er so eifrig, ja sarkastisch werden, als wenn er solches Vorgehen zu rügen hatte. In seiner Weise wusste er dann seinen Grundsatz ‹suche den Fehler immer zuerst bei dir selbst› ins Gemüt zu legen.»124 Gleichzeitig waren Pünktlichkeit, Ordnung und Fleiss seine Losungsworte, Ungehorsam konnte er «niederschmetternd» in Worten und Liebesentzug bestrafen.125 Dies war umso effektvoller, als es zum Selbstverständnis Schupplis gehörte, «seinen Lehrerinnen